von Peggy Kammer
Viele Menschen sind auf der Flucht. Menschen aus Syrien, der Ukraine, aus Burundi. Menschen aus dem Jemen, Myanmar, Afghanistan.
Worauf würdest du verzichten, wenn du eine*r von ihnen wärst?
Eine Übung zum Thema Verzicht, die mich mehr als nachdenklich gemacht hat.
Weltweit sind mehr als 84 Millionen (!!!!) Menschen auf der Flucht. Sie müssen ihr Zuhause verlassen, ihr Heimatland, ihre Liebsten - alles, was bislang zu ihrem Leben gehörte. Alles, was bisher ihr Leben war, ihre Identität.
Vor ein paar Wochen habe ich an einem interkulturellen Online-Workshop teilgenommen, und da gab es eine Übung für uns Teilnehmende, die mich noch lange beschäftigt hat.
Übung Teil 1
Nimm dir 8 Karten oder Zettel und einen Stift. Schreibe deine Antworten auf die folgenden Fragen auf je einen Zettel:
- Welche 2 Werte sind dir besonders wichtig?
- Welche 2 Menschen (NICHT die/der Lebenspartner*in oder Kind(er)!) möchtest du in einem Leben nicht missen?
- Auf welche 2 Talente/Kompetenzen bist du stolz?
- An welchen 2 beruflichen Aufgabenfeldern oder Projekten hängt dein Herz?
Schau dir deine Antworten nochmal in Ruhe an.
Passt es so? Dann geht's weiter.
Übung Teil 2
Stell dir vor, du müsstest deine Heimat verlassen. Der Grund ist egal. Klar ist, dass du in ein Land auf der südlichen Halbkugel flüchten musst, in eine sehr andere Kultur. Und du wirst nicht in dein Land zurückkehren können.
Nachdem du ein paar Wochen oder auch Monate in einem Flüchtlingslager verbracht hast, kannst du jetzt entscheiden, wie du an dem neuen Ort leben willst. Du hast immer die Wahl zwischen 3 Optionen:
Wohnen
A) Du bleibst in einer Gemeinschaftsunterkunft mit Menschen, die mit dir geflüchtet sind. Es ist eng und prekär, aber du hast vertraute Menschen um dich, die deine Sprache sprechen und dein Schicksal teilen.
B) Du kannst in eine kleine bescheidene 1-Zimmer-Wohnung ziehen. Es ist einfach, aber du hast ein neues Zuhause mit Privatsphäre.
C) Du entscheidest dich für eine schöne Wohnung mit ausreichend Platz und einem netten Ausblick.
Schau dir deine 8 Zettel aus dem ersten Teil der Übung an.
Für Option B) musst du einen Zettel abgeben. Für Option C) musst du zwei Zettel abgeben. Wofür entscheidest du dich?
Lege den/die Zettel zur Seite, die du bereit bist, für dein neues Zuhause zu opfern. Wenn du dich für Option A) entscheidest, kannst du alle Zettel behalten.
Freundschaften
A) Du bleibst überwiegend alleine bzw. im Kreis deiner Familie (Lebenspartner*in, Kinder).
B) Du hast hauptsächlich Kontakt zu anderen Menschen aus deinem Heimatland.
C) Du baust dir einen neuen Freundeskreis auf.
Für welche Option entscheidest du dich? Für Option C) musst du zwei Zettel beiseite legen, für Option B) einen.
Sprache
A) Da du dich überwiegend mit Menschen aus deinem Heimatland umgibst, kannst du nur ein paar Brocken der neuen Sprache.
B) Du erlernst die neue Sprache so, dass du damit im Alltag ganz gut durchkommst.
C) Du lernst die Sprache deines neuen Heimatlandes so gut, dass du dich in allen Konversationen und Lebenslagen sicher fühlst.
Wie wichtig ist dir das Erlernen der neuen Sprache? Was bist du bereit, dafür zu geben?
A) du kannst alle Zettel behalten B) du gibst einen ab C) du gibst zwei Zettel ab und legst sie zur Seite
Arbeiten
A) Du lebst von staatlicher Unterstützung oder/und schlägst dich mit Gelegenheitsjobs durch.
B) Du übst eine Tätigkeit aus, die dich nicht fordert und dir keine große Freude bereitet - aber dein Lebensunterhalt ist gesichert.
C) Du übst einen Beruf aus, der deine Kompetenzen erweitert und dich erfüllt.
Und auch hier hast du wieder die Wahl. Gibst du keinen (A), einen (B) oder zwei (C) Zettel?
Reflexion und Ergebnis
Wie ging es dir mit den einzelnen Entscheidungen? Welcher Bereich - Wohnen, Freundschaften, Sprache, Arbeiten - hat dir eine besonders schwere Entscheidungsfindung bereitet? Welche Zettel deines alten Lebens wolltest du (so lange wie möglich) behalten? Bei welchen fiel es dir leicht, sie abzugeben? Was sagt dir das über dein jetziges Leben?
Welche Zettel hast du bis zum Schluss behalten? Oder konntest du dich von allen verabschieden?
Schau dir die Zettel an, die du zur Seite gelegt hast. Für jeden Zettel bekommst du 2 Punkte. Du kannst also maximal 16 Punkte erreichen.
Je höher deine Punktzahl ist, desto besser bist du angekommen und integriert an deinem neuen Lebensort.
Teile dein Ergebnis und deine Gedanken dazu gerne hier in den Kommentaren.
PS: Ich hatte nur(?/!) 8 Punkte, wäre also so halb-integriert. Verabschiedet hatte ich mich von einem Projekt, einem Talent und den zwei Menschen.
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Anne (Montag, 28 März 2022 21:40)
Das war eine interessante Beschäftigung für unseren Abend. Wir haben das als Familie gemacht und es gab erstaunliche und erwartbare Ergebnisse.
Von 3 bis 12 Punkten hatten wir ein großes Spektrum an Integrationsbereitschaft.
Monika (Sonntag, 03 April 2022 16:07)
10 Punkte - auf Talente zu verzichten war besonders schwer - das geht es an die Identität ...
Mara (Donnerstag, 28 Juli 2022 11:33)
10 Punkte ... übrig blieben meine zwei Schwestern und Liebe ... jeder einzelne Zettel den ich weglegte, hat geschmerzt. Es hat sich irgendwie angefühlt wie die Träume, in denen man Zähne verliert ... die wachsen auch nicht nach ...