von Rainer Molzahn & Boris Leithäuser
Der erste Akt von "Wie lebt man?":
Was bewegt die beiden Dialog-Partner Boris Leithäuser und Rainer Molzahn und wie betrachten sie die Welt und ihre eigene Geschichte mit der Frage ...
Akt 1:
In welchem sich die handelnden Personen vorstellen und die Thematik des Dramas eingeführt wird. Oder, um es in den Begriffen des 5-Grenzen-Prozessmodells zu sagen: die Grenze gegen die Wahrnehmung …
Rainer I
Hi Boris, ich freu mich total, dass wir diesen virtuellen Dialog miteinander haben können, zu dieser essenziellen Frage. Magst du vielleicht zu Beginn ein paar Worte zu dir sagen, im Sinne von „Wo lebst du, was machst du, was bewegt dich – und was hat dich an der Idee angezogen, diesen Dialog zu führen?“
Boris I
Ich lebe auf der feuchten Wiese zwischen den Meeren unweit der Quelle der Alster und arbeite einige Kilometer flussabwärts, nur einen schlappen Steinwurf vom Ufer der Binnenalster in der Hamburger Innenstadt, in meiner Praxis als Internist und Kardiologe. Seit kurzem habe ich auf meine alten Tage die Weiterbildung zur ‚fachgebundenen ärztlichen Psychotherapie‘ abgeschlossen und biete Herzpatienten mit psychischen Problemen/Störungen meine Hilfe an.
Mich bewegt...
- wie die Menschen mit dem, was sie bewegt, umgehen,
- wie Menschen sich verhalten und wie unendlich schwer es ihnen dabei fällt, Verantwortung zu übernehmen,
- in diesem Zusammenhang, dass viele Menschen an die Möglichkeit glauben, eine metaphysische Instanz habe in einem willentlichen Kraftakt unsere Welt erschaffen, um sie anschließend in einem zeitlich unbegrenzten soziokulturellen Massenexperiment sich selbst zu überlassen und nur durch gelegentliche Tsunamis und Virus-Pandemien ungezielt regulierend einzugreifen,
- die Tatsache, dass Menschen nach Gefahren aus dem All Ausschau halten, welche die Erde treffen könnten und dabei fortwährend und konsequent daran arbeiten, ihren Heimatplaneten unbewohnbar zu machen,
- der fast lebenserhaltende Drang des Menschen zur Gruppenzugehörigkeit und der Hang zur Unterdrückung und Bekämpfung anderer Gruppen oder Menschen, die nicht der eigenen Gruppe angehören (was im Plan der existenzstiftenden metaphysischen Instanz nicht vorgesehen ist),
- dass wahrscheinlich die Mehrheit der 8 oder 9 Milliarden Menschen an oder unter etwas leidet... Hunger, Isolation oder dem Mangel an Scheißhauspapier
Die Idee, diesen Dialog zu führen, ist insofern attraktiv, als dass sie die Möglichkeit eröffnet, tatsächlich unter Gleichgesinnten (Gruppe!) uneingeschränkt homo sapiens (gescheiter, kluger, vernünftiger Mensch) sein zu können.
Nun würde mich interessieren, lieber Rainer, was Du tust, um Dich körperlich und vor allem geistig am Leben zu erhalten. Sind es völlig andere Gedanken als meine, die Dich umtreiben? Wie gehst Du mit der Psyche des heutigen, auf Leistung getrimmten Subjekts um, dass Gewalt gegen sich selbst anwendet, Krieg gegen sich selbst führt? Kommst Du mehr nach dem Titanen Prometheus, dem Vor-Denker, oder seinem Bruder Epimetheus, dem Nach-Denker?
Rainer II
Gute Frage, du kommst ja direkt zum Punkt 👴. Wie gut deine Frage ist, merke ich akut daran, dass ich fast eine Grenze dagegen habe, sie zu auf mich als Person bezogen zu beantworten. Wenn ich sie aber epimetheisch vor mir hinhänge (suspendiere) und erstmal bauchatme, leuchtet meine Antwort sehr schnell und grell vor meinem inneren Auge auf: ganz klar, Epimetheus. Erstmal Scheiße bauen und dann, meist nach mehreren Durchgängen, anfangen darüber nach-zu-denken, wie um Gottes willen das eigentlich passieren konnte. Erstmal das Gegenteil bewirken von dem, was ich bewirken wollte, und dann – meist nach mehreren Durchgängen – mich fragen, wie so viele hilflos gute Absichten zu so viel Unglück führen konnten. Erstmal bei anderen, dann fast zwangsläufig bei mir. Das biographische Ergebnis waren natürlich das Studium der Psychologie und diverse psychotherapeutische Ausbildungen und Aspirationen. Alle inspiriert von der reflexiven Erkenntnis, dass noch mehr Psychologie, dass noch mehr Arbeit mit sich selbst nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Bewusstheitsfortschritte bewirken möge. Dass also sehr viel Epimetheus irgendwann (hoffentlich!) zu Prometheus führt. Bis eines Tages …
Aber sag mal, Boris, bevor wir fortschreiten: wie war denn dein induktiv-deduktiver Prozess bis hierher, was unser Leitmotiv betrifft?
Boris II
Aha! Also meine ich an dieser Stelle, nicht nur zur Andeutung biographischer Zusammenhänge, sondern auch zur Beschreibung meiner zumindest angestrebten Vorgehensweise in unserem Dialog, die beiden noch fehlenden Begriffe einführen zu müssen: Empirie und Theorie. Mir erging es wahrscheinlich genauso wie Dir, nur wesentlich später im Leben. Der Scherbenhaufen musste sich erst mannshoch neben mir erheben, bevor ich zum Nachdenken kam, um die Erfahrung in immer neue Theorien zu formulieren und diese wieder zu verwerfen. Die Medizin, die Heilkunde, die zu meiner Identität gehört, ist menschheitsgeschichtlich eine rein empirische Methode, die ursprünglich mal von Mensch zu Mensch weitergegeben wurde. Im Übrigen ohne Trennung von Psyche und Soma! Das hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten dramatisch geändert hin zu einer induktiven Vorgehensweise im Sinne einer „evidenzbasierten Medizin“. Meine Empirie braucht aber eine klare Struktur. Ergo: Die professionelle Auseinandersetzung mit der Psychologie und Integration in die Welt des Somatikers.
Aber wir müssen wieder einen Schritt zurück, lieber Rainer! Mit der Frage nach den Brüdern Prometheus und Epimetheus habe ich Dich offensichtlich „abgepingt“. Vielleicht kommen wir später noch einmal darauf zurück. Mich interessieren ja auch immer noch Dein Leitmotiv und Deine Sicht auf die Umstände, die mich bewegen.
Rainer III
Ich glaube, das Profundeste, was ich dazu sagen kann, ist: eigentlich flirtet die Frage ‚wie lebt man?‘ mich schon immer, auch in meiner beruflichen Entwicklung als Psychologe. Aber es brauchte den Prozess des Schreibens von ‚Transformatives Coaching – ein Weg zu Freiheit und Kreativität, zu Wirksamkeit und Verantwortung‘, um mich nach Jahrzehnten des Forschens und Praktizierens zu der Einfachheit, Klarheit und Größe dieser Fragestellung durchzuwühlen. Das hat damit zu tun, dass ich in meiner akademischen Sozialisation ein Kind der ‚humanistischen Psychologie‘ der Nachkriegszeit bin, speziell der 60er und 70er. Diese war – und ist – hundertprozentig mit der Selbstentfaltung der Person identifiziert; auch als völlig verständliche Gegenreaktion auf die ‚Massenpsychologie‘ (Gustave Le Bon u.a.), die großen Einfluss sowohl auf die Freud‘sche Psychoanalyse wie auf den Nationalsozialismus hatte. Böse, böse.
Um es maximal zu vereinfachen: Le Bon, Freud und Hitler misstrauten dem ‚inneren Kind‘, die humanistische Psychologie vergötzte es: die Person, diesseits und jenseits jeder gemeinschaftlichen Bindungen und Verpflichtungen. Eine so unpersönliche wie überpersönliche Fragestellung wie die unsere wäre ihr nicht nur nicht in den Sinn gekommen, sondern nachgerade als Verrat an den Grundfesten des Weltbildes erschienen. Sehr unbeliebt. Ein Verräter ist man ja nicht gerne. Deswegen hat es so lange gedauert bei mir. Deswegen brauchte es die Versenkung in den Schreibprozess, „Sex mit dem Universum“, wie ich gerne sage, bevor ich so klar sein konnte, so mutig und so einfach. Und so unverschämt.
Sag doch mal, Boris, ich bin total neugierig, mehr darüber zu erfahren: auf welche Weise wirst du in deiner beruflichen Praxis mit der Frage ‚wie lebt man?‘ konfrontiert? Wie indirekt, wie vermittelt oder offensichtlich auch immer? Schließlich kommen die Menschen aufgrund körperlicher Beschwerden und Befunde zu dir, und unser Körper ist ja in der Regel sehr geduldig …
Boris III
Da ich von meinen 30 Jahren ärztlicher Tätigkeit während der ersten knapp 23 Jahre in der Akut- und Intensivmedizin tätig war, bin ich eher geprägt von der Frage „wie lebt man nicht?“. Der weit überwiegende Anteil an Erkrankungen in unserer Zivilisation ist Lebensstil-assoziiert. Das heißt, die Ursachen finden sich zuallermeist in den Bereichen Ernährung, Bewegung und dem psychosozialen Umfeld des Menschen. Tatsächlich ist es wissenschaftlich untersucht, dass menschliche Ur-Populationen, die auf diesem Planeten noch in den Tiefen tropischer Regenwälder zu finden sind, und die seit mehreren 100.000 Jahren unverändert und ohne zivilisatorischen Kontakt leben (außer im Rahmen besagter wissenschaftlicher Studien, die in deren Lebensraum stattfanden), weit weniger an den Erkrankungen leiden, die bei uns die Hitlisten anführen: Sie haben keine Herzinfarkte oder Schlaganfälle und nur ausgesprochen selten Krebserkrankungen. Dafür verletzen sie sich häufiger und sterben an Infektionen, Umständen also, die ihrem Lebensalltag entsprechen, der sich von unserem im Hinblick auf Ernährung, Bewegung und dem psychosozialen Umfeld krass unterscheidet.
Die Frage „wie lebt man?“ muss präziser formuliert werden: „Wie verhält man sich?“
In der Szenerie der ambulanten Medizin erscheinen heute bei mir mehr Menschen, die fragen: „Was soll ich tun, um nicht krank zu werden?“ - Also, wie soll ich leben oder wie soll ich mich verhalten? In den meisten Fällen antworte ich: Ändere etwas, esse anders, bewege Dich mehr, verhalte Dich anders in Deinen Beziehungsgeflechten, verändere etwas an dem System, in dem Du lebst. Und die Antwort, die ich häufig höre: Ach so!? Ja, nee, oh, das ist aber schwierig. Natürlich, eben weil unser Körper in der Regel sehr geduldig ist und zwischen Veränderung und dem sicht- oder spürbaren Effekt der Veränderung meist eine längere Zeit vergeht und der Geist nicht geduldig ist.
Die Frage, wie lebt man, oder wie verhält man sich, lieber Rainer, impliziert, indem sie gestellt wird, die mögliche Notwendigkeit eines Anpassungsvorganges, also einer Veränderung. Habe ich recht, wie siehst Du das?
Boris Leithäuser
Rainer Molzahn
Aus-dem-Haus-Aufgabe
Geh eine Viertelstunde in die Stille. Stell dich ans Fenster oder auf den Balkon.
Öffne alle Sinneskanäle – die nach außen und die nach innen.
Atme.
Was drängt sich auf?
Zeit: 15 min
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