von Rainer Molzahn
In Zeiten globaler transformativer Veränderungen - also jetzt - brauchen wir sie besonders: kulturelle Kompetenz. Erst wenn wir sie entwickeln, können wir tragfähige Lösungen finden, die uns aus der Krise unseres Lebenswandels führen.
Was unterscheidet kulturelle Kompetenz von interkultureller Kompetenz und was wird möglich, wenn man/frau sich der eigenen Kultur bewusster wird?
Als Elke und ich nach bald 10 Jahren gemeinsamen Erforschens individueller und kollektiver Veränderung mit der Arbeit am Text von ‚Die heiligen Kühe…‘ beschäftigt waren, sahen wir uns vor die Notwendigkeit und die Herausforderung gestellt, dem theoretischen Kind, das wir als Forschungsergebnis in die Welt brachten, einen Namen zu geben. So wie man das nun mal mit Kindern tun muss, damit das Neue, was da in die Welt kommt, beim Namen genannt werden kann.
Wir entschieden uns für ‚kulturelle Kompetenz‘ – auch in Abgrenzung zu dem, was landauf, landab als ‚interkulturelle Kompetenz‘ bezeichnet wird: Während sich das Konzept der interkulturellen Kompetenz auf eine gewisse Vertrautheit mit fremden Kulturen und deren Sitten und Gebräuchen bezieht, betont ‚kulturelle Kompetenz‘ ein Maß an Bewusstheit über die eigene Kultur, deren eingeborenes Mitglied man/frau ist. Beides hängt natürlich zusammen, ist aber keineswegs identisch (oder identisk, wie unsere Dänen sagen :-), und die lügen bekanntlich nicht).
In gewisser Weise ist eine Bewusstheit über das Eigene noch anspruchsvoller als die über das Fremde – einfach, weil sich das Fremde unabweisbar sinnlich präsentiert, das Eigene aber nicht. So selbstverständlich, so ‚normal‘ ist es. Im Allgemeinen werden wir uns seiner erst bewusst, wenn wir Grund haben, uns selbst nicht ‚normal‘ zu finden. Wenn wir also dem ‚Fremden‘ in uns selbst begegnet sind, wenn wir uns dieser Begegnung gestellt und aus ihr transformativ gelernt haben.
Das hört sich wahrscheinlich anspruchsvoll an, und das ist es auch, aber andererseits ist es auch voll normal ey: Niemand von uns ist als Person einfach vollkommen identisk mit der Kultur, deren Mitglied wir sind. Wir sind zugleich kleiner und größer als sie.
Niemand hat diese Relation akkurater auf den Punkt gebracht als A. Lipkovitz:
„Als Person sind wir verbunden mit dem Kreatürlichen wie dem Kosmischen. Unsere Rolle verbindet uns mit unserer menschlichen Gemeinschaft.“
In diesem existenziellen Umstand – den wir alle weltweit miteinander teilen, einfach, weil wir Menschen sind – liegen der Nährboden, die Erlaubnis und die Aufforderung, unsere kulturelle Kompetenz zu entwickeln. Sie ist die konzeptuelle Perspektive, aus der ich die Welt betrachte und die ich anlege, um zu verstehen, was in ihr (und mir) geschieht. Für die Eingeweihten: sie markiert den Bedeutungsraum für meinen induktiv-deduktiven Dialog mit dem Leben. Persönlich und in meinen Rollen. Und das ist nix Besonderes, nochmal sei es betont: wir alle, überall, sind eingeladen, kulturell bewusster zu werden, weil wir es können.
Und weil es in Zeiten globaler transformativer Veränderungen, in denen unser aller Leben auf dem Spiel steht, auch wirklich kein frivoler Zeitvertreib mehr ist, sondern ein Teil des Problems oder seiner Lösung, verdammt.
Hier sind, kurz zusammengefasst, einige der Merkmale und Wohltaten der kulturellen Kompetenz:
- Man/frau verwechselt die eigene Kultur nicht mehr mit der Welt. Das macht bescheiden, neugierig und mutig.
- Man/frau entwickelt ein Bewusstsein des eigenen kulturellen Mythos, der großen Geschichte davon, wie wir wurden wer wir sind. Das befreit und verpflichtet.
- Man/frau verfeinert und präzisiert das Verständnis der Strukturgrenzen der eigenen Kultur – dessen, was in ihr als eigen und fremd, als öffentlich und privat gilt. Das ermöglicht Teilnahme,
Mitsprache und kluge Wirksamkeit.
- Man/frau vertieft die Kenntnis des eigenen systemischen Spielfeldes: der spezifischen Beziehungsmatrix von Macht und Rang, von Konkurrenz und gegenseitiger Abhängigkeit, in der man mit den
anderen interagiert. Diese Kenntnis erleichtert es, sich nicht unbewusst und unbedarft in Täter/Opfer-Dynamiken zu verstricken.
- Man/frau verwechselt nicht länger Rolle und Person, Bedürfnisse und Interessen in Dynamiken und Konflikten. Das ermöglicht Klarheit und Unbestechlichkeit in der persönlichen und
professionellen Beziehungsaufnahme.
- Man/frau ist mit dem Geist im Hintergrund vertraut, der den kulturellen Vordergrund erschafft, und kann aus der Perspektive auf den sinnlich manifesten Vordergrund schauen. Das ermöglicht es,
die Kreativität zu ermutigen, die für friedliche und zukunftsweisende Problem- und Konfliktlösungen gebraucht wird.
- Man/frau kann unverschämter und mit noch mehr Hüftschwung die Vielfalt des Menschlichen feiern, und die unermessliche Inspiration, die wir für einander sein können, wenn wir unsere
Unterschiede vor dem Hintergrund unseres Eins-Seins in Begegnung bringen.
Free Jazz!
Und damit das hier jetzt nicht abhebt, sondern seine Bodenhaftung behält mit der kulturellen Kompetenz: Bewusstheit kann niemals vollständig sein, weder die des Eigenen noch die des Fremden, des ganz Großen wie des ganz Kleinen. Letztendlich bleiben das Leben, das Universum und alles ein unauslotbares Rätsel.
Aber, und das ist entscheidend: jedes kleine bisschen hilft, jedes kleine bisschen ist besser als kulturelle Naivität. Oder Infantilität. Leider sind ja ganz aktuell einige der notorischen politischen Führer auf himmelschreiende Weise infantil, was ihre kulturelle Kompetenz angeht. Darin liegt eine große Gefahr für uns alle – und deswegen werde ich fortfahren, für jedes kleine bisschen mehr kulturelle Bewusstheit zu werben.
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Anatoli Lipkovitz (Freitag, 04 Dezember 2020 19:48)
Rainer, old boy:
Keep up the good work!
From a place beyond space ,
A. L.