von Sandra Iggena
Vor einigen Wochen führte ich ein kleines Interview mit Anna.
Anna ist 34 und kommt aus der Ukraine.
Sie lebt seit 1993 in Deutschland und arbeitet als Sozialpädagogin.
Im Interview erzählt sie von ihren ersten Erfahrungen in Deutschland und was sich für sie seitdem verändert hat.
Sandra:
Hallo Anna. Danke, dass ich dieses Interview mit dir führen darf. Wir beide kennen uns ja über unsere Arbeit mit jungen Menschen mit internationalem Hintergrund. Du selbst stammst ja aus der Ukraine. Wie lange lebst du jetzt eigentlich schon in Deutschland?
Anna:
Hallo Sandra, sehr gerne! Es sind jetzt schon 25 Jahre, seit ich nach Deutschland übergesiedelt bin.
Sandra:
Erinnerst du dich, mit welchen Vorannahmen bzw. mit welchen Erwartungen du damals herkamst?
Anna:
Oh ja, sehr deutlich. Ich wollte gesund werden, ich wollte Freunde finden, und ich habe mir auch gewünscht, ein neues Zuhause zu finden.
Sandra:
Als du zu allererst hier ankamst – innerhalb der ersten Stunden und Tage deines Hierseins – was stieß dir vor dem Hintergrund dessen, was dir von Zuhause gewohnt und selbstverständlich war, als ganz besonders fremdartig auf?
Anna:
[lacht] Spinat. Und wie verloren man sich fühlt, wenn man wirklich kein Wort versteht. Nicht ganz so unmittelbar, aber auch sehr schnell fiel mir auf, wie wichtig materielle Dinge hier sind – Besitz, Geld, solche Sachen.
Sandra:
Wie war deine spontane innere Reaktion darauf?
Anna:
Es hat mich sehr unsicher gemacht, so fremd zu sein. Und ich hab dann versucht, mit Bildern und Zeichen zu kommunizieren.
Sandra:
Wie hast du schließlich versucht, dich auf all das einzustellen und damit umzugehen – und wie ist das gelungen?
Anna:
Ich hab versucht, den Menschen ohne Vorurteile zu begegnen. Vielleicht war es aber auch ein Zusammentreffen von Vorurteilen, die sich daraus ergaben, dass ich in Deutschland zunächst auf dem Land gelebt und selber aber aus einer Großstadt komme …
Sandra:
Was hat dir in diesen ersten Tagen an der Heimat am meisten gefehlt?
Anna:
Am meisten wohl der herzliche Umgang mit Fremden, den ich von zu Hause gewohnt war. Dann aber auch überhaupt körperliche Nähe, meine Eltern, eigentlich die ganze Familie.
Sandra:
Denk jetzt bitte mal an die Zeit zurück, als du nicht mehr ganz frisch hier warst, sondern so etwa 6 – 12 Monate nach der Ankunft: Nachdem du Land und Leute also schon besser kennen gelernt hattest, woran hattest du dich mittlerweile so gewöhnt, dass du zumindest keinen Stress mehr damit hattest?
Anna:
Das Bedürfnis nach körperlicher Distanz, das ich eben schon erwähnt hab. Und ein sehr anderes Identifikationsgefühl als Frau.
Sandra:
Was hat dich zu der Zeit nach wie vor verwirrt oder irritiert? Dich eventuell unsicher gemacht, wie damit umzugehen ist?
Anna:
Der deutsche Anspruch auf Pünktlichkeit, überhaupt die Korrektheit in jeglicher Hinsicht. Und übrigens auch die unterschiedlichen Religionen. Das kannte ich aus der Ukraine überhaupt nicht.
Sandra:
Welche der Erwartungen, die du an Land und Leute hier hattest, haben sich nach diesen ersten Monaten bestätigt? Wie hast du dich darauf eingestellt?
Anna:
Menschen, die mehr besitzen, haben große Ängste. Ich halte mir immer vor, was tatsächlich Existenzangst ist und habe keine Angst mehr vor der Pyramide der Bankberaterin.
Sandra:
Wo bist du nach besserem Kennenlernen enttäuscht worden, oder positiv überrascht, und was hat das für dich verändert?
Anna:
Ich wurde enttäuscht, als ich erwartet hatte, dass meine Erfahrungen genauso viel wert waren wie die der Deutschen. Positiv: Meine beste Freundin seit 2009 ist eine deutsche Jüdin, Buddhistin und Veganerin.
Sandra:
Wie hat sich nach den ersten Monaten hier dein Blick auf deine Heimat verändert?
Anna:
Ich verstehe und durchschaue Propaganda viel besser. Und ich verstehe – zumindest theoretisch, nicht unbedingt menschlich – was es bedeutet, in einem Land ohne Krieg zu leben.
Sandra:
Mittlerweile bist du hier in Deutschland heimisch geworden, bewegst dich sicher in den meisten Lebenssituationen hier wie ein Fisch im Wasser. Was hast du inzwischen an der deutschen Kultur schätzen gelernt, auch wenn es dir anfangs sehr fremd erschien?
Anna:
Die Frankfurter Trinkkultur [lacht]. Dass es eine Krankenversicherung gibt. Und last not least den deutschen Schlager …
Sandra:
In welchen Situationen, in welchen Bereichen fühlst du dich innerlich nach wie vor fremd, kannst dich nur schwer mit den Deutschen verbinden?
Anna:
Immer, wenn ich Zeugin von Schulddiskussionen werde. Die unglaubliche Auswahl an allem – vor allem von Informationen und Informationsquellen. Und insgesamt die Service-Gesellschaft.
Sandra:
Als jemand, der mindestens zwei Kulturen gut kennt: von welcher Qualität, die du aus deiner Ursprungskultur kennst, würdest du den Deutschen mehr wünschen?
Anna:
Ich würde den Deutschen mehr Herzlichkeit wünschen, mehr Offenheit und mehr Körperlichkeit. Also mehr Tanzfreude.
Sandra:
Und umgekehrt: welche deutschen Qualitäten würden deiner Ursprungskultur guttun?
Anna:
Die Strukturiertheit und die Strukturen. Auch die Vielfalt der (friedlichen) Religionen. Und Englisch als Standard-Zweitsprache.
Sandra:
Liebe Anna, danke für deine Antworten und Hinweise!
Anna:
Liebe Sandra, danke für deine Fragen! Hat Spaß gemacht!
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