von Rainer Molzahn
„Die meisten Veränderungsprozesse beginnen auf der Beziehungsebene. Alle münden auf ihr.“ (Anatoli Lipkovitz)
In unserer ersten Wandel-Werkstatt wollen wir, der weitsichtigen Diagnose unseres Inspirators folgend, 5 + 1 große Beziehungsprobleme erkunden, die allesamt aktuell auf uns wirken.
Auf uns als Einzelne und auf uns als Gemeinschaften. Jedes einzelne von ihnen ist machtvoll, jedes einzelne konfrontiert uns mit Fragen, denen wir nicht ausweichen dürfen, jedes einzelne fordert uns auf, dass wir darauf schöpferisch antworten.
Verschärfend und erschwerend kommt allerdings noch hinzu, dass diese Beziehungsprobleme nicht säuberlich getrennt voneinander daherkommen, sondern auch noch in gegenseitiger Verschlingung: Wir können sie nicht einfach in eine To-Do-Liste tun und nacheinander abarbeiten. Deswegen wollen wir uns in der Wandel-Werkstatt jedem widmen, aber uns auch nicht vor den Interdependenzen drücken, die sie in sich tragen. Diese Themen sind:
Eins: Frauen und Männer
Überall auf der Welt, über alle Kulturen hinweg, erleben wir, wie die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sich ändern. Das geht von #MeToo in Hollywood über die Fahrerlaubnis für saudische Frauen bis hin zum Bekanntwerden von Massenvergewaltigungen in Indien und dem lauten öffentlichen Schweigen, dass immer noch in Japan über das Thema herrscht. Nicht zuletzt interpunktiert es auch die öffentliche Debatte hierzulande, wenn es um Flüchtlinge, Asyl und Immigration geht, um Eigen und Fremd. Und nun?
Zwei: Deutschland und Europa
Das Bild, das Europa in diesen Tagen abgibt, ist ziemlich jämmerlich. Es franst an den Rändern aus und fragmentiert im Innern, will sich aber am liebsten mit Trump-artigen Mauern vom Rest der Welt abschotten. Die EU, das Nachkriegsprojekt zur Sicherung von Frieden, Demokratie und allgemeinem Wohlergehen auf unserem Kontinent, leidet an fortschreitender Blutarmut. Und Deutschland ist, wie eigentlich immer, wenn es nicht gerade ausflippt und einen Weltkrieg anzettelt, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um seiner Verantwortung für Europa gerecht zu werden. Dabei wird es dringend gebraucht. Es geht nicht ohne uns. Was ist unsere Rolle?
Drei: Europa und die Welt
Die Welt ist multipolar geworden, die ordentliche Schwarz/Weiß-Nachkriegsordnung ist Geschichte. Viele der neu entstandenen oder wieder erstarkten Pole der neuen Welt-Unordnung sind nicht sehr sympathisch: autokratische ‚Strongman‘-Regimes sind stramm und schamlos auf dem Vormarsch, in Osteuropa, in der Türkei, in vielen Ländern Zentral-und Ostasiens, aber auch in den Kernländern der westlichen Gemeinschaft. Fast hat man das Gefühl, einer globalen Machismo-Verschwörung gegenüberzustehen. Was ist der zivilisatorische europäische Beitrag zu dieser Welt, deren Kolonialherren wir nicht mehr sind? Und wer bestimmt darüber?
Vier: Arm und Reich
Die himmelschreiende Ungerechtigkeit in der Verteilung des globalen materiellen Wohlstands wird immer bizarrer: Letztes Jahr gingen über 82% des weltweit erwirtschafteten Wohlstands an das reichste ein Prozent. Seit 2010 sind die Milliardäre unseres Planeten jährlich um 13% reicher geworden. Die 3,7 Milliarden Menschen der ärmeren Hälfte unserer Spezies gewannen nichts dazu. Der CEO eines internationalen Mode-Labels verdient in 4 Tagen, wofür eine seiner Näherinnen in Bangladesch ihr ganzes Leben braucht. Und weltweit überall, in allen Wirtschaftsbereichen, sind die am schlechtesten verdienenden Menschen Frauen. WTF?
Fünf: Mensch und Erde
Der Orbit ist vermüllt, nicht einmal Asteroiden kommen noch heil durch. Die Pole schmelzen in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit. Irrsinnige Mengen Plastik sammeln sich auf den Meeresböden und finden über die Nahrungskette ihren Weg zurück in unsere Körper. Die Vielfalt der Arten ist auf dem Rückzug, nur die blöden Quallen sind auf dem Vormarsch. Aber der Vorgarten ist gepflegt! Und der muss unbedingt gegen die Einwanderer verteidigt werden, die von den Rückwirkungen unseres Handelns schon früher betroffen sind als wir hier im Auenland. Aber schuld sind wir: unsere Art zu wirtschaften, zu konsumieren, die Erde wie einen Selbstbedienungsladen ohne Check-Out auszuplündern. Und nun?
Plus Eins: Ich und mein Leben
Inmitten dieses titanischen planetarischen Getümmels wir: in dieser kleinen Kapsel, die unser Körper ist, im Zentrum unseres subjektiven Universums, unterwegs auf dem Orbit unseres Lebensweges. Beschäftigt damit, irgendwie durchzukommen, nicht wirklich sicher woher und wohin. Bewirkt von allem, wirkend auf alles. Und immerzu auch noch, während wir unsere Instrumententafel im Blick behalten und rhythmisch das Radar scannen, im inneren Dialog zwischen multipolaren inneren Stimmen wie: „Radio ausschalten, hab ein Date“ – „Mir doch egal, da bin ich schon längst tot“ – „Was ist der Sinn meines Lebens?“ – „Oh Gott, das ist ja furchtbar, das kann man doch nicht so lassen!“ – „Ich sehne mich nach Lebendigkeit“ und viele andere. Wie ohnmächtig bin ich in meinem Leben? Und wie mächtig?
Letzten Endes laufen all diese großen Beziehungsprobleme auf diese Frage hinaus:
Wie will ich leben? Wie wollen wir leben? Die Antwort auf sie geben wir nicht in einem Satz, nicht in einem Aufsatz, nicht in einem Bild, nicht in einer Sinfonie. Wir geben sie auf der Beziehungsebene. Da, wo es ‚heiß‘ wird. In den Beziehungen zueinander, zur Erde, zu uns selbst.
Unsere Hoffnung für die Wandel-Werkstatt ist, dass wir uns gegenseitig inspirieren, ausrüsten und stärken, damit wir uns einzeln wie gemeinsam dieser Beziehungsarbeit stellen.
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