von Anne Grökel
Wenn ich Nachrichten höre oder im Internet stöbere, mache ich mir ernsthaft Sorgen.
Politische Lagerbildung, Rassismus, eingeschränkte Menschenrechte. Verschwörungstheoretiker, Coronaleugner, unbeholfene oder selbstbezogene Politiker, die am Volk vorbei regieren, gewaltbereite Demonstranten, hungernde und frierende Flüchtlinge, …
Ganz oft geistert mir der Satz im Kopf herum, dass „wir aus der Geschichte nichts gelernt haben“. Und ich meine damit nicht die, die sich den politischen Extremen zuwenden. Ich meine auch nicht die, die im Angesicht einer Pandemie Verschwörungstheorien frönen. Ich meine damit uns alle – jeden von uns.
Wir stehen vor komplexen Herausforderungen in einem nie dagewesenen Ausmaß, zumindest für die aktuellen Generationen. Nur noch wenige ältere Menschen kennen die Leiden des letzten Weltkriegs, noch wenigere haben die letzte größere Pandemie erlebt. Vielleicht sollten wir uns von diesen Menschen erzählen lassen, was damals wirklich geholfen hat aus der Krise?
Unser Handeln spiegelt all die Entwicklungen wider, die es schon gab. Wir verurteilen, hetzen auf, polemisieren, bilden Lager, schließen einander aus, verbreiten gefährliches Halbwissen, spinnen nützliche Lügen, ziehen in den Krieg, oder sind ohnmächtig und hilflos.
Und wofür?
Um mit aller Macht zu erhalten, was wir kennen, womit wir uns wohl fühlen. Wir wenden ungeahnte Energien dafür auf, bitte unbedingt in unserer Komfortzone verweilen zu dürfen.
Und gleichzeitig bemerken wir nicht, dass wir genau damit diesen Wandel beschleunigen. Die Komfortzone entschwindet uns mit jeder Hassbotschaft und mit jeder aufgekündigten Freundschaft ein Stückchen mehr. Wir befinden uns schneller als wir glauben in einem Strudel aus Schlag und Gegenschlag. Und erst, wenn alles zerstört ist, wachen wir aus dieser Trance auf und erkennen, dass es das, wofür wir gekämpft haben, nicht mehr gibt.
Gibt es denn keinen anderen Weg? Ist der Mensch wirklich dazu verdammt, diese Schleifen immer und immer wieder zu drehen? Wofür sind wir so intelligent, wenn uns in Krisensituationen doch nur noch Kampfwerkzeuge zur Verfügung stehen?
Ich möchte einen neuen Weg gehen.
Ich möchte mich nicht vereinnahmen lassen von Meinungsführern, die die einzige Wahrheit für sich beanspruchen. Ich möchte mich nicht mitreißen lassen von den einzelnen Polaritäten der Gesellschaft oder der Politik. Ich beanspruche nicht die Wahrheit für mich. Und ich möchte mir nicht von irgendwelchen Menschen sagen lassen, dass ich meinen Verstand nicht benutze, weil ich nicht ihrer Meinung bin. Ich möchte niemanden anfeinden, weil er anderer Meinung ist, als ich. Und ich möchte alle mir zur Verfügung stehenden Ressourcen und Medien nutzen, um meinen Weg in diesem Chaos zu gehen - mit dem Gefühl, zu agieren, nicht nur noch zu reagieren.
Vielleicht ist das der Knackpunkt? In der Psychologie gibt es das Phänomen der Verantwortungsdiffusion.
Ohne diesem würde eine Polarisierung der Gesellschaft nicht funktionieren. Wir überlassen jemandem die Verantwortung, unsere Geschicke für uns zu lenken. Mächtige Meinungsführer, die augenscheinlich in unserem Sinne sprechen oder handeln, kämpfen für uns und setzen sich für uns ein. Wir erteilen ihnen die Macht. Und je mehr Menschen sich dieser Bewegung aus ebendiesen Gründen anschließen, umso stärker wird das Phänomen, aber auch die Macht. Man unterhält sich nur noch mit seinesgleichen. Man holt sich Bestätigung bei seinesgleichen. Man hinterfragt seinesgleichen nicht mehr. Man hält alles für wahr, was in diesen Kreisen kommuniziert wird. Doch was passiert, wenn diese Menschen plötzlich nicht mehr in unserem Sinne handeln? Wenn sie nicht für den Erhalt unserer Komfortzone gesorgt, sondern sie durch Hetze, Kampf und Krieg endgültig zerstört haben?
Ich möchte nicht sagen, dass Gemeinschaften generell schlecht sind, weil man darauf vertraut, dass sie in unserem Sinne handeln. Ich wünsche mir nur, dass wir nicht bei Eintritt in eine Gemeinschaft sämtliche Verantwortung für unser Handeln und unser Leben an der Tür abgeben.
Die großen Krisen der Menschheit wurden nicht durch Zerstörung und Auslöschung Andersdenkender gemeistert. Sie wurden gemeistert, weil es genug Menschen gab, die hinterfragt haben. Die Alliierten haben den Krieg nicht gewonnen, weil sie stärker waren. Sie haben ihn gewonnen, weil sie sich zusammengeschlossen haben. Die friedliche Revolution konnte nur funktionieren, weil zunächst das Handeln der führenden Politiker in Frage gestellt wurde und sich in einem zweiten Schritt Menschen zusammengeschlossen haben, um zu verdeutlichen, dass es so nicht weitergehen darf.
Gemeinschaften sind also durchaus nützlich und häufig die Lösung aus Krisen. Aber nur, wenn wir als Person, als Mensch, uns niemals vollständig assimilieren lassen.
Wir tragen für unser Handeln die volle Verantwortung, immer und zu jeder Zeit.
Nur so können wir handlungsfähig bleiben, in einer Welt, die uns vor so komplexe Herausforderungen stellt.
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