von Rainer Molzahn
Power and Love. Zwei Polaritäten, zwei Leitmotive des Menschlichen:
wie sie sich in der öffentlichen Arena konstituieren, und warum es wichtig ist, mit beiden zu arbeiten – von einem Ort aus, der weder das eine noch das andere ist.
Heute möchte ich die Geschichte erzählen, wie ich dem Konzept in seiner ganzen Tragweite auf die Schliche kam und wem ich dafür zu danken habe. Und ich werde zumindest andeuten, welche Bedeutung es für meine transformative Arbeit mit Menschen hat – in Gruppen und allein.
Auf das Konzept von Power & Love wurde ich in dieser begrifflichen Klarheit zuerst gestoßen durch meine Lektüre von Adam Kahanes ‚Solving Tough Problems‘, ca. 2005. Kahane ist gebürtiger Kanadier und international tätiger Consultant. Nachdem er einige Jahre für Shell gearbeitet und dort das ‚Scenario Planning‘ mit entwickelt hatte, wurde er nach Südafrika eingeladen, um (ca. 1991-93) seine Expertise bei der schwierigen Transformation der Burenherrschaft zur liberalen Demokratie zur Verfügung zu stellen. Er gab seinen gut dotierten Job bei Shell auf und folgte dem Ruf. Dort musste er recht schnell erkennen, dass seine aus Militär und Management entstammende Methodik in einem solchen Prozess, der das fragile Ergebnis von jahrzehntelanger, jahrhundertelanger Täter/Opfer-Dynamik war, nicht funktionierte. Nicht funktionieren konnte. Einfach nicht angemessen war. Er gab auf und fing an zu lernen – und dann lernten auch alle anderen. Was er lernte war: einen Raum schaffen und zu halten, in dem es erlaubt und erwünscht war, sich auszudrücken und anderen in ihrem Ausdruck zuzuhören. Das klingt viel zu bescheiden, wenn der eigene kulturelle Hintergrund auf stramme Ergebnisorientierung ‚eingenordet‘ ist.
Deswegen brauchte es (in meinen Worten) bei Kahane und seinen Kolleg*innen auch einen gehörigen 5-Grenzen-Prozess, um sich zu dieser ‚Aufgabe‘ durchzuringen. Aber schließlich geschah das Erstaunliche: Begegnung, Empathie und schließlich auch Vergebung und Erneuerung wurden möglich. Und halfen dabei, den Übergang von der rassistischen Diktatur zur repräsentativen Demokratie halbwegs friedlich hinzukriegen. Besser als an den meisten anderen verzweifelten Orten der Welt in Vergangenheit, Gegenwart und wohl leider auch Zukunft. Ich kann mich noch gut erinnern, da ich den politischen Prozess in Südafrika seit Beginn der 70er sehr bewusst und mit viel Mitgefühl verfolgt hatte: um die Epochenwende 1990 herum war ich ziemlich überzeugt, dass es eine gewalttätige Revolution (und also eine erneute Täter/Opfer-Runde auf dem Großen Karmischen Karussell) benötigen würde, um die rassistische Herrschaft der Buren zu überwinden. Ich war gewiss nicht der Einzige, der das damals befürchtete. Indes, wie wir alle wissen, es passierte nicht – für mich damals fast ein Wunder. Adam Kahane leistete seinen Beitrag dazu.
Das Werk transformiert den Schöpfer, und also transformierte sich Kahanes persönlicher und beruflicher Weg. Er ist seitdem weltweit unterwegs, um in Brennpunkten kultureller Transformation dabei zu helfen, gemeinsam frei, schöpferisch und verantwortungsvoll zu wirken. Seit einigen Jahren als Teil von Reos Partners. Auf die Prinzipien von Power & Love wurde er gestoßen, als er Ende der 90er versuchte, in Guatemala nach 36 (!) Jahren Bürgerkrieg beim Übergang in die Zivilgesellschaft zu helfen: im Projekt ‚Vision Guatemala‘, in dem Politiker, Militärs, Geschäftsleute, Journalisten, junge Menschen und Vertreter der indigenen Völker daran arbeiteten, eine friedliche und zukunftsfähige Transformation hinzubekommen.
Kahane musste entdecken, dass es nicht ausreichte, im Kreis zusammenzusitzen und Geschichten zu teilen [Love]: die Vertreter von Bürgerrechtsorganisationen kündigten die Zusammenarbeit auf, weil sie sich durch ihre Teilnahme an den Workshops und Dialogen der Option berauben würden, die Menschen zu Demonstrationen und Straßenkampf aufzurufen [Power]. Meine begründete Vermutung, nach der Arbeit am Manuskript von ‚Transformatives Coaching‘: sie wollten sich nicht der sehr realistischen Gefahr aussetzen, von ihrem Souverän, dem gemeinen Volk, des Verrats an der gemeinsamen Sache beschuldigt zu werden, wenn sie fortführen, mit Vertretern der Gegenseite, der Täter, in nicht-öffentlichen Gesprächskreisen herumzukungeln.
Die innere Auseinandersetzung mit diesem ‚Misserfolg‘ führte Kahane zu der Erkenntnis, dass es, wie auch immer man es dreht und wendet, nicht hinhaut, in Zeiten großer Veränderung nur mit dem Einen oder dem Anderen zu arbeiten, nur mit der Liebe oder nur mit der Macht.
Sondern es muss darum gehen, beide Pole zu halten, beide Pole zu umarmen. Beide sind quintessenzielle Kräfte des menschlichen Feldes. Ich werde Adam Kahane mein Leben lang dankbar sein, mich in dieser Einfachheit und Klarheit darauf hingewiesen zu haben.
Die ganz interessante Frage hier ist natürlich: Welches ist der Standort, von dem aus wir Macht und Liebe umarmen können – damit transformativer Wandel friedlich und verantwortungsvoll geschehen kann? (-> siehe MoMo Gesprächskultur)
All das werde ich in den folgenden Teilen dieser Reihe weiter entfalten, weil es mir am Herzen liegt: es ist, wenn man so will, das freundliche schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße meiner Theorie und Praxis.
Hier ist einstweilen Adam Kahanes Vortrag zu Power & Love vor der ‚Royal Society of Arts‘ in London, UK:
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Lydia Maria Eichiner (Sonntag, 29 November 2020 15:43)
Ein wunderbarer Beitrag und ich werde auch dieses Buch lesen.
Ich habe etwas ähnliches sowohl in Ausbildungen über was der Einzelne braucht Anregendes/neues und Sicherheit/affektives
Sowohl in dem Kurs von Polarität - das Werte (Values) immer im Paar gehen müssten.
Ich hab es für Zentralisieren und Dezentralisieren von Organisationen gesehen. Die Vorteile von einem heben die Nachteile des anderen auf und umgekehrt.