Was ist ‚normal‘, was ist ‚verrückt‘? Und wer darf seine Stimme erheben?

von Rainer Molzahn

normal und verrückt

 

 

Ein Bericht des Türmers... 

 

Heute möchte ich etwas mit euch teilen, was mir sehr an meinem persönlichen wie beruflichen Herzen liegt, und was sehr viel zu tun hat mit allem, was ich in die Welt zu bringen versuche. Ehrlich.

 


Spoiler: es geht um eine arte-Doku über einen Radiosender in Argentinien, der von ‚Verrückten‘, also von hospitalisierten Psychiatrie-Patient*innen betrieben und gestaltet wird.

 

Von Menschen, die als amtlich psychisch krank aus ihren normalen sozialen ‚Bezügen‘ (also Beziehungen) aussortiert wurden – zum Schutz vor sich selbst, zum Schutz der anderen. Wer würde solchen Leuten zuhören wollen??

 

Das Video folgt weiter unten. Zunächst möchte meine kurze Geschichte damit erzählen. Ich stolperte über die Reportage, als ich eines späten Nachmittags auf meinem Ergometer Kilometer abstrampelte und etwas auf dem YouTube-Kanal von arte anklickte, was mich beim Strampeln unterhalten und inspirieren würde. Und das tat es, aber hallo, auf vielen Ebenen:

Argentinien. Kulturell sehr durch die Einwanderung aus Europa geprägt. Bis in die Fünfzigerjahre eines der reichsten Länder der Erde (lat. Argentum=Silber). Seit einem halben Jahrhundert in heftigen transformativen Krisen:

 

Die schreckliche Militärdiktatur ab Mitte der Siebziger, in der tausende Menschen einfach verschwanden (sie wurden z.B. in Flugzeuge verladen und über dem Südatlantik ausgekippt – Los Desaparecidos).

Der Falklands-Krieg Anfang der Achtziger, unter den Vorzeichen von Reaganismus, Thatcherismus, Mega-Ultra-Hayek-Trickle-Down-Kapitalismus. Das Land stürzte ins internationale Abseits.

Der endgültige, alternativlose Einzug des Neoliberalismus nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Welt in den Neunzigern.

Die tatsächlich so benannte Argentinien-Krise Anfang der Nullerjahre, als die New-Economy-Blase platzte. Die Folgen waren der Zusammenbruch der Mittelklasse, Anstieg von Armut und Unterernährung, Inflation.

 

Auf die langsame Erholung in den späteren Nullerjahren folgten weitere Inflations- und Zahlungskrisen seit ca. 2014.

Mindestens drei aufeinanderfolgende Generationen von Argentinier*innen sind also kollektiv und individuell, politisch und persönlich traumatisiert. Die so wundersamen wie wundervollen Folgen aber:

 

In keinem anderen Land der Welt gibt es eine so hohe Dichte von Psychotherapeut*innen.

In keinem anderen Land der Welt sind so viele Menschendurchtherapiert‘. 

Ich will damit keineswegs sagen, dass die Lösung unserer gemeinschaftlichen Probleme darin besteht, dass wir uns alle in Therapie begeben. Komische Vorstellung überhaupt. Was ich sagen will, ist:

 

Die ‚graduierten‘ Patient*innen von ‚La Colifata‘ in Argentinien haben uns etwas zu lehren; egal, ob wir uns persönlich als gesund oder krank identifizieren. 

 

Sie sind die Verrücktheit durchgegangen und mit einer kreativen Antwort am anderen Ende rausgekommen, diesseits und jenseits von dem, was wir in unserem Gesundheitssystem als gesund oder krank (arbeitsfähig oder nicht arbeitsfähig, rechenschaftsfähig oder nicht rechenschaftsfähig, bürgerliche Ehrenrechte oder nicht…) einordnen. 

 

Das ist genau die Perspektive, die durch das arte-Video leuchtet. Gleich kommt es; danke für die Geduld. Bitte erlaubt mir aber vorher eine persönliche Ergänzung:

 

Mich beschäftigt das Grenzland zwischen normal und verrückt, zwischen gesund und krank, zwischen Opfersein und Tätersein seit einem halben Jahrhundert (in eigenartiger Synchronizität mit der argentinischen Geschichte): als Psychologe, als Psychotherapeut, als Mitglied der sozialpsychiatrischen Gegenkultur, als Kulturanthropologe, als transformativer Coach. 

Genau im Kontext dieses Grenzverkehrs tröstet, inspiriert und ermutigt mich ‚La Colifata‘ so tief, so sehr. 

 

Und jetzt kommt noch der Hammer:

Es gibt eine deutsche Version, einen deutschen Ableger von Radio Blumenkohl (span. Colifata=dt. Blumenkohl)! Das lässt hoffen, oder?

Einen Nachsatz möchte ich mir nicht verkneifen:

Vor kurzem wurde die neueste Version der WHO-Grenzziehung zwischen gesund und krank, zwischen normal und verrückt verabschiedet – mit interessanten Verschiebungen des Todesstreifens: ICD-11. Die Dinge sind mal wieder in Bewegung, und das heißt:

 

Es gibt Hoffnung!


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Kommentare: 3
  • #1

    Luis Ortega (Montag, 31 Januar 2022 21:10)

    los locos son los que hacen entrar en razón a nuestro mundo. Gracias, queridos locos! Un abrazo!

  • #2

    regina (Dienstag, 01 Februar 2022 18:22)

    ..........wandelforum intensiv wie immer! täter, opfer, lebenslang ein thema...never ending story.....
    ich arbeite mich mal weiter durch......�‍♀️danke!

  • #3

    Rainer (Mittwoch, 02 Februar 2022 19:50)

    Liebe Regina, danke für deine tiefe Resonanz. Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Loco!
    Aloha, R

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