Menschenpflichten - Dialog Teil 3

von der Projektgruppe Menschenpflichten

Menschenpflichten Dialog 3

 

Wir setzen unseren Dialog zu den Menschenpflichten fort.

Die Geschichten werden persönlicher.

 

Wir sprechen über Schuld und Verantwortung, über Vertrauen und Strohhalme der Hoffnung ...


Steffi

(22/08/29)

 

So, es geht in die 2. Runde. Zunächst mal, möchte ich sagen, dass ich es sehr bestärkend und motivierend und irgendwie „groß“ finde, ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Danke euch allen.

 

Was mich in den letzten Wochen immer wieder bewegt hat, konnte ich, bis gestern nicht so recht in Worte fassen. Nun möchte ich dem mit „WEIL ICH ES KANN!“ einen Namen geben. Diese 4 Wörter haben mich aus verschiedenen Richtungen beschäftigt. 

 

Da wäre zum einen meine Resonanz auf den Vorschlag zum Verzicht. Dem möchte ich mich auch gar nicht entgegenstellen im Gegenteil. Und gleichzeitig, komme ich nicht umhin, mich zu fragen, wie dieser Aufruf zum Verzicht wohl auf die Menschen wirkt, die nicht die Wahl haben. Ich meine, in unserer Runde sprechen wir aus einer privilegierten (und trotzdem recht gemischten) Perspektive. Wir können den Verzicht wählen. Eben „weil wir es können“.  Viele können das nicht und sind schlussendlich froh über Klamotten und Lebensmittel zum Superpreis und darüber, dass es doch bitte einfach irgendwie funktionieren möge. Da gibt es nicht den finanziellen Spielraum „Bio“ zu kaufen und auch nicht den (Zeit- und Energie-)Raum, das alles zu hinterfragen oder das Gemüse im eigenen Garten anzubauen. Es braucht Entscheidungsmöglichkeiten und das setzt neben (finanzieller) Freiheit und Sicherheit auch den vereinfachten Zugang zu Informationen voraus. („Woher kommt mein Zeug und unter welchen Bedingungen wird es hergestellt?“ statt Werbung.)

 

Das andere „WEIL ICH ES KANN“ erlebe ich in dem rücksichtslosen und verschwenderischen Verbrauch unserer Ressourcen. Ich denke da an Menschen, die bei dieser Trockenheit den Rasen bewässern, damit er eben grüner ist als der des Nachbarn. Und da stellt sich mir die Frage, was genau braucht es in diesem Fall, damit Entscheidungen getroffen werden können, die mit dem Leben(digen) im Einklang stehen. (Ich vermute, es ist das Verständnis um die Verbundenheit und dass es eben nicht egal ist, was ich als Individuum in dieser Welt tue. Ihr wisst schon, der umfallende Sack Reis in China und so.)

 

Für mich bedeutet das: Jedes einzelne menschliche Individuum muss spüren und erfahren, dass es bedeutsam ist, in seinem Sein und seinem Tun UND es muss die Erfahrung machen, dass es frei ist, Entscheidungen zu treffen. Trifft beides zusammen, die Bedeutsamkeit und die Möglichkeit, bin ich überzeugt, treffen Menschen gute Entscheidungen, wird aus „WEIL ICH ES KANN!“ eine Lebensweltretter-Motivation.

 

Alles andere wäre ja auch, platt gesagt, Blödsinn. Warum sollte in uns eine Art kollektiver Suizid angelegt sein, der dafür sorgt, dass wir uns unsere Lebensgrundlage selbst entziehen?

 

Aber ich fürchte, dass viele Menschen, die sich selbst als bedeutsam (verbunden) und frei (sicher) fühlen dürfen, dieses Gefühl erst lange und hart erarbeiten mussten, gegen Widerstände wie Erziehung, fragwürdige gesellschaftliche Normen und Zwänge und was weiß ich. Und ich fürchte, dass dieses Gefühl viele, der jetzt lebenden Menschen gar nicht haben (werden) und dann eben einfach nur noch mehr von dem machen, was sie schon kennen und gelernt haben.

 

Und jetzt gebe ich wieder an dich weiter, liebe Hildegard. Wie ging es dir in und mit der ersten Runde?

Steffi Mademann

www.steffi-mademann.de


Hildegard

(22/09/13)

 

Danke, Steffi, für deinen Text und die Weitergabe an mich. Beim Lesen der Beiträge in Runde 1 habe ich mich von jedem einzelnen gesprochen gefühlt und gerade darum fand ich die Texte so wertvoll. Die je eigenen Sichtweisen und Schwerpunkte verbinden sich auf wunderbare Weise und bilden ein so weites Feld ab.

 

In der ersten Runde habe ich mich nicht vorgestellt, das hole ich jetzt nach und versuche, das zu verbinden mit Antworten auf Rainers Frage, wie wir hierher gelangt sind. Es ist dies meine eigene Erzählung über einen Teil von mir, den politischen. Also: alles subjektiv…

 

Ich bin Partnerin, Großmutter, Coachin, Rentnerin … und werde bald 70. Wenn ich auf diese Zahl schaue, staune ich: ein so langes Leben und ich habe immer noch so viel zu lernen, zu bewegen, zu lieben, zu leben. Wie wunderbar ist das denn! Es geht mir gut in dieser Lebensphase, es fühlt sich nach Ernte an, wenn es da nicht das (Mit)Verantwortungsgefühl, vielleicht das (Mit)Schuldgefühl, gäbe, das mich ergreift angesichts des Zustands unseres Planeten.

 

Veränderungen anzustoßen gelingt besser, wenn ich mich mitverantwortlich, nicht schuldig fühle. Das eine eröffnet mir Handlungsräume, das andere zieht nur Energie.

 

Neulich im Gespräch ist mir aufgefallen, dass ich, wenn ich von mir erzähle, kaum von meinen frühen politischen Ansichten oder Prägungen spreche. Im Sinne von: meine erste Demo war Ende der 60er Jahre gegen die Bildungspolitik in Baden-Württemberg, die nächsten wirklich bewusst erlebten waren im ersten oder zweiten Semester gegen den § 218, gefolgt von Arbeit in Frauen- und Stadtteilgruppen. Im Nachhinein betrachtet haben wir uns ständig überfordert mit unseren Wünschen aneinander, unseren Zielen und unserem unbedingten Bedürfnis alles grundlegend anders machen zu wollen als unsere Eltern – und zwar sofort. An dieser Überforderung sind viele gescheitert, haben resigniert oder diese Zeiten der Rebellion abgetan als leicht verrückte Lebensphase. Ich schaue auf diese Zeit einerseits mit Trauer, weil wir uns so viel abverlangt haben, aber auch mit Dankbarkeit, weil ich so viel lernen und mich immer wieder neu verorten konnte.

 

Noch heute bin ich glücklich mit meiner Arbeit in den 90er Jahren. Mein Weg hat mich in ein Institut geführt, das sich mit Verbraucherfragen beschäftigte, und von heute aus gesehen, waren wir unserer Zeit voraus. Wir haben einen neuen Blick auf die KonsumentInnen entwickelt und Ihnen genau die Verantwortung zugewiesen, die sie tatsächlich haben. Das bedeutete den Abschied vom Homo oeconomicus, der nur nach der „besten“ Ware zum günstigsten Preis schaut. Wir haben Seminare und Fortbildungen entwickelt zu nachhaltigem, verantwortlichen Konsum, wir haben damals schon gefragt, wer wo unter welchen sozialen und ökologischen Bedingungen was und wie viel herstellt. Und so weiter. Es war für mich eine sehr inspirierende und prägende Zeit.

 

Als ich dachte, das kann doch nicht alles sein, habe ich eine Coaching-Ausbildung gemacht, drei Jahre intensive Arbeit. Eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Dabei hat mich immer am meisten beschäftigt, wie Wandel, Transformation sich gestaltet und sich begleiten lässt. So bin ich zum Wandelforum gekommen.

 

Das Thema Menschenpflichten ist für mich eine Art Essenz aus meiner Arbeit, meinen Themen, meinen Fragen und meinen Überzeugungen. Für mich hat es viele Dimensionen - und die spirituelle gehört dazu. (Darüber vielleicht mehr in einer weiteren Runde?) Danke, dass es euch alle gibt und dass wir das in die Welt bringen. 

Hildegard Mackert

www.tiefenblau.net


Anne

(22/09/23)

 

Ich beginne diesen Text jetzt zum fünften Mal, weil die Welt gerade so laut von außen schreit, dass es mir schwer fällt, in mich reinzuhören. Und da sind wir schon so ziemlich am Kern dessen, was ich mit Menschenpflichten verbinde:

Es sollte die Pflicht eines*r jeden sein, täglich mindestens eine Minute mit seiner*ihrer inneren Stimme zu verbringen. 

 

Vielen Dank, liebe Hildegard, für das Teilen Deiner Geschichte. Sie berührt mich sehr.

Wenn ich darüber nachdenke, was mich aus meiner eigenen Geschichte antreibt, mich diesem Thema zu verpflichten, ist das bei mir sehr eng damit verbunden, dass ich (für meine Generation) sehr früh begonnen habe, Verantwortung für eigene Kinder zu übernehmen. Zuvor war ich eine rebellische Jugendliche, die eine Zeitlang mehr mit sich selbst gekämpft hat, als sich Gedanken zu machen, um die Zukunft oder unseren Planeten.

 

Es gibt einen Satz, den mein Vater mir mal sagte, den ich bis heute bei jeder Gelegenheit beherzige:

"Hinterfrage alles, was man Dir sagt." Das gelingt mir seither mal gut und mal weniger gut. Aber es hat mich auf jeden Fall dazu veranlasst, nicht bei jeder Parole mit Pauken und Trompeten einzusteigen, sondern erstmal zu recherchieren. 

 

Jetzt kommt es darauf an, neben dem Infragestellen auch das nötige Vertrauen in Prozesse oder Menschen oder Maßnahmen zu entwickeln. Denn alles braucht ein Gegengewicht.

 

Während ich schreibe, reißen meine Gedankenfäden ab. Weil Putin 300 000 weitere Menschen in einem größenwahnsinnigen Krieg opfern will. Weil wieder ein großer Klimastreik geplant ist und ich die Kraft nicht habe, dabei zu sein. Weil mir heute früh jemand eine völlig skurrile Situation schilderte. Eine Mutter fährt mit ihrem Kind im Auto durch den Wald. Während der Fahrt beginnt das Kind zu weinen. Gefragt, was los sei, antwortet das Mädchen, dass es sie so traurig mache, den sterbenden Wald zu sehen. Die Reaktion der Mutter darauf war, dass sie auf dem Rückweg eine andere (längere) Strecke fuhr, um diesen Anblick zu vermeiden.

Es ist zum Verzweifeln! 

 

Ich möchte gern mit Euch rausfinden, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind. Es tut mir sehr leid, dass ich gerade so desillusioniert bin. Ganz tief drin, weiß ich, dass unser Strohhalm gar nicht so dünn ist, weil wir alle echt viel zusammen wuppen können und damit auch nicht alleine sind.

 

Ich gebe weiter an Boris. 

Anne Grökel

www.wirksam-wandeln.de


Boris

(22/09/24)

 

Hallo in die Runde und Dank an Dich, liebe Anne, für die Weitergabe des „Staffelstabes“.

 

Ich lese die Niederschriften Eurer Gedanken mit Anteilnahme, spiegeln sie doch allesamt, in vielen Facetten, die Trauer über das, was war, jetzt nicht mehr ist und die Sorgen über das, was kommen mag. Da ist von Schuldgefühlen die Rede, aber auch von Stolz über Erreichtes und freudiges Resümieren von Erlebtem. Menschengeschichten eben, keine andere Spezies auf diesem Planeten kann das. Ich bin hin und her gerissen zwischen eben dieser Anteilnahme und professioneller Distanz, da ich im Alltag noch weit mehr Variationen höre und Menschen durch Pandemie, Krieg und Klimakrise so betroffen sind, dass sie körperliche Symptome entwickeln, welche dem Bündel von Sorgen noch eine weitere, unmittelbare, die eigene Gesundheit betreffend, hinzufügen. Ich bin wahrlich erstaunt, hätte nicht gedacht, wie viel persönliches, wie viel Emotion mit dem doch eher nüchtern anmutenden Begriff „Menschenpflichten“ verbunden zu sein scheint. Und es ist gut, dass wir hier darüber schreiben.

 

„Gib Worte deinem Schmerz: Gram, der nicht spricht,

Presst das beladne Herz, bis dass es bricht.“

(Shakespeare, Macbeth, um 1608, Erstdruck 1623, 4. Aufzug, 3. Szene, Malcolm).

 

Zum Thema „Verzicht“ möchte ich anmerken (@Steffi): Der Gedanke an Verzicht impliziert nach meiner Sicht den Umstand der Verhältnismäßigkeit. Wer nichts hat, kann auf nichts verzichten (wir haben aber Zeitgenossen unter uns, die könnten niemals auf ihren SUV verzichten). Allen Menschen gemein ist das unverzichtbare Bedürfnis nach Nahrung, sauberem Wasser und Wärme, also auch Behausung/Kleidung.

 

Fakt ist, das die Mehrheit der Menschen auf unserer Erde schon seit geraumer Zeit nicht mehr in der Lage ist, diese Grundbedürfnisse aus eigener Kraft zu befriedigen. Wir sind auf industrielle Herstellung von Ernährung und Bekleidung angewiesen, also auf die Arbeit anderer. Und dass wir unseren Energiebedarf nicht durch unserer Hände Arbeit decken können, sondern auf Handel angewiesen sind, wird uns nun aktuell reichlich spät schmerzlich bewusst. Die Ursache ist hier nachzulesen: „Hyperexponentielles Wachstum“.

 

Die in meiner beschränkten Vorstellung maximale Form von Verzicht wäre die Rückführung unserer Lebensverhältnisse auf das vorindustrielle Zeitalter. Ganz, ganz dunkel.

 

Liebe Anne, die Menschheit hat vor 200 Jahren (erdzeitgeschichtlich vor sehr kurzer Zeit) damit begonnen, die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören. Das ist kein kollektiver Suizid, dahinter steckt das in uns programmierte Verhalten zur Sicherung des individuellen Vorteils zum Zwecke des Überlebens. Solidarität beschränkt sich auf die eigene überschaubare Gruppe (wie an Populationen von Schimpansen und Bonobos in den Regenwäldern vor langer Zeit beschrieben). Der menschliche Kampf um die verbleibenden Ressourcen hat bereits begonnen. Wie lauteten angeblich die letzten Worte des Kapitäns der Titanic an seine Mannschaft gerichtet? „And now, Gentlemen, everyone for himself“.

 

Daher wiederhole ich die Kernaussage meines Beitrages der ersten Runde:

Die erste Menschenpflicht ist die Anerkenntnis des Existenzrechts jedes anderen Menschen.

 

Der Dialog, den wir hier führen, stimmt mich zuversichtlich, dass wir diese Verantwortung auch in uns tragen.

Ich bin gespannt auf Alberts Kommentar.

Boris Leithäuser

www.herzunddarm.de


Impuls

  • Was aus deiner Geschichte prägt deinen Blick auf die Welt noch heute?

  • Wie findest du deine Mitstreiter:innen und was sollten sie mitbringen?

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Kommentare: 1
  • #1

    Monika (Sonntag, 08 Januar 2023 08:52)

    Ich lese gebannt und gespannt und dankbar, dass ihr dieses Gedankenfeld für mich und uns ausbreitet.

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