Menschenpflichten - Dialog Teil 2

von der Projektgruppe Menschenpflichten

Menschenpflichten Dialog 2

 

Im ersten Teil unseres Dialoges zu den Menschenpflichten sind Steffi, Hildegard, Anne und Peggy zu Wort gekommen. Jetzt geht es weiter mit Boris, Albert, Franziska und Rainer.

 

Unter anderem geht es um den Ansatz von Verzicht versus Freude, Verletzung und Verantwortung - und um saubere ICE-Toiletten.


Boris

(22/08/07)

 

Liebe Gruppe, liebe Peggy,

danke für die Weitergabe des Staffelstabes und der Ehre an mich.

 

Vorgestellt habe ich mich und das, was mich umtreibt, bereits im Chat mit Rainer. Da steht schon einiges zu meinen Gedanken über das menschliche Verhalten.

 

Rechte und Pflichten sind miteinander verbunden und kommen erst durch unser Verhalten zur Geltung („wenn ich das machen muss, dann darf ich aber auch das…“ sagt schon meine sechsjährige Enkeltochter #3).

Meine Gedanken zum Thema Menschenpflichten lauten folgendermaßen: Jeder Mensch hat das Recht, ein selbstbestimmtes, sinnvolles, erfülltes Leben in Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit zu führen.

 

Peggy hat es für sich auch schon so ausgedrückt und es ist sinngemäß nachzulesen in der Charta der Vereinten Nationen und bei der Weltgesundheitsorganisation. Krankheit, körperliches Leid und Tod gehören zum Leben und sind nicht zwangsläufig Menschenrechtsverletzungen. Das gilt universell und global - für alle!

 

Daher ist es eines jeden einzelnen Menschen erste Pflicht, sich dafür einzusetzen, dass er/sie selbst und alle anderen dieses Recht wahrnehmen können. Wir können das Menschenrecht für uns in Anspruch nehmen und einfordern und haben die Pflicht, es anderen zu gewähren.

 

Ich habe den Philosophen Hans Jonas bereits im Chat mit den Worten zitiert „handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ In andere Worte gefasst las ich dies auf der Toilette eines ICE-Zuges: „Liebe Fahrgäste. Bitte hinterlassen Sie diesen Raum so, wie Sie ihn vorfinden möchten.“ Und Hans Jonas weiter: „Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann. Indem er sie haben kann, hat er sie.“ 

 

In diesem Sinne ist das Dominium Terrae (Herrschaft über die Erde) zu verstehen). Wir sind Gäste auf diesem Planeten und es ist unsere Pflicht, damit fürsorglich umzugehen.

 

Nun beamen wir uns vor dem geistigen Auge in die Aussichtskuppel auf der Internationalen Raumstation ISS (dem Sinnbild menschlicher Größe und Leistungsfähigkeit und Zwischenstation auf dem Weg zum nächsten Ort im Universum, den wir vollsauen können) und schauen auf einer anderthalbstündigen Erdumrundung, wo überall diese Gedanken Grundlage täglichen Handelns sind.

 

Stille!

 

Mir ist die Größe meines eigenen ökologischen Fußabdrucks bewusst. Erkenntnis ist leider ein Umstand des Alterns. Aber eine späte Einsicht ist besser, als keine. Und ich habe verändert!

 

Für mich ist die aus dem gesagten logisch zu folgernde nächste Menschenpflicht: der Verzicht.

Wie weit gehe ich, gehen wir dabei?

 

Ich gebe weiter an Albert. Wie siehst du das?

Boris Leithäuser

www.herzunddarm.de


Albert

(22/08/07)

 

Ich bin Albert, 60 Jahre, Dipl.-Psych., westlich sozialisiert, lebe in Thüringen, habe drei Kinder, bin im Training tätig.

 

Meine Geschichte ist, dass Natur immer Schatz war: der Reichtum meiner Kindheit war, dass die Straße uns gehörte, einschließlich Vorgärten, Garagendächern, verfallenen Gartenlauben, Baustellen, dem Main und allem, was dazwischen wuchs und wucherte. Der Grenzbereich zwischen Stadt und Natur gehörte uns.

 

Ich habe erlebt, dass Natur eine Kraftquelle für meine Eltern war und dies übernommen und auf meine Weise weitergeführt. Ich war Ende 20, als eine Psychologin im Gespräch mir gegenüber sagte: „Natur heilt“. Da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen.

 

Ich erinnere mich an ein Wahlplakat der Grünen vom Anfang der 80er: „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt“. Diese schlichte Wahrheit hat mich so beeindruckt, dass ich seitdem nichts anderes wähle. Die Klimakrise war mir, wie allen geistig wachen meiner Generation, früh bewusst. Unsere Schuld ist, dass wir trotzdem bei zu Vielem mitgemacht haben.

 

Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem klar ist, dass jeder und jede einzelne von uns, wie auch der größte Teil der Menschheit, aufgerufen ist, den eigenen Lebensstil zu verändern. Und zwar jetzt. Das ist auf dem Hintergrund der aktuellen Situation die zentrale jetzt anstehende Menschenpflicht. Die Klimakrise oder noch allgemeiner unser Umgang mit der Erde ist die Krise der Krisen. 

 

Allerdings: Katastrophenszenarien können uns wachrütteln – aber sie motivieren nicht. Verzicht ist wahrscheinlich angemessen – fühlt sich aber scheiße an. Von daher möchte ich eine Alternative zum Verzicht vorschlagen: die Freude.

 

Wenn wir im Einklang mit unseren Werten und aus tiefer innerer Überzeugung handeln, dann kann aus Verzicht Freude werden. Freude, im Sinne der Natur zu handeln. Meine persönlichen Beispiele sind: Ich freue mich, dass ich meine Ernährung immer weiter umgestellt habe (um die Ressourcen der Natur zu schonen), ich freue mich, nach Wegen zu suchen, meinen Gasverbrauch deutlichst zu reduzieren, ich freue mich, meinen Verbrauch an fossilen Energien deutlich zurückzufahren, ich freue mich, aus privaten Gründen nicht mehr zu fliegen, ich freue mich, beim Einkauf zu prüfen, was am besten für die Natur ist und ich freue mich, in meinem Garten gute Bedingungen für eine der Region entsprechenden Artenvielfalt zu schaffen. Und ich freue mich, wenn ich andere Menschen in diese Richtung anstecken kann.

 

Kurz: ich plädiere für die Perspektive der Freude statt der des Verzichts bei der Veränderung des Lebensstils und der Arbeit mit den Menschenpflichten.

 

Ich übergebe an Franzi, frisch aus dem Urlaub zurück.  

Albert Glossner

www.abb-seminare.de


Franziska

(22/08/11)

 

Liebe Alle,

ich bin weiß, westlich/sozialistisch und weiblich sozialisiert, fühle mich nichtbinär, bin Gesundheitsförderin aus ganzem Herzen und forsche, was reifes Menschsein bedeutet.

 

Danke für eure berührenden Zeilen, sie sprechen mich und hinterlassen ein Gefühl von "ich bin nicht allein" und einer kraftvoller Unterströmung.

 

Mein Urlaub war nicht erholsam. Er führte uns vor Augen und ins Herz, wie wir Menschen mit unserer Mitwelt umgehen, wie wir zerstören, zerstört haben (Frontlinie 1. Weltkrieg) und irgendwie die mitfühlende und fürsorgliche Verbindung zu allem Leben ausblenden und die Folgen davon. Es war schmerzhaft. Ein alter Schmerz für mich, uralt und irgendwie schon immer da.

 

Einen gerodeten Baum zu sehen, schmerzt mich physisch, die vertrockneten Pflanzen zu sehen, treibt mir die Tränen in die Augen. Die Blechlawinen in den Städten, vorzugsweise in großen, völlig übertriebenen Stadtpanzern, wecken in mir große Wut und Ohnmacht.

 

Alles Leben ist für mich wichtig, auch das Menschliche, denn alles ist Natur und hat den göttlichen Funken in sich. Wenn etwas verletzt wird, ist alles andere auch verletzt.

 

In mir gibt es schon immer diese tiefe Verletzlichkeit, die all das spürt – und gleichzeitig gibt es die Wut, die schreit nach Respekt, Respekt für alles Leben. Wir können es nicht vernichten, auch wenn wir dafür gerade und schon immer unser Bestes geben. Aber wir machen viel kaputt und es gibt so viele Opfer. Die Leisen, die Kleinen, die Unterdrückten, die Armen, die Tiere und Pflanzen... sind die, bei denen es als Erstes ankommt und die die Folgen tragen. Die möchte ich schützen und dazu finde ich Werte (Pflichten) unerlässlich.

 

Wir können hier viel von alten Völkern lernen, die tief verbunden mit der Natur leben und dies auch immer als Wert hochhalten. Wir haben Verantwortung für alles Leben auf der Erde wie David Attenborough treffend formuliert. Wie können wir diese Verantwortung tragen? Ich forsche mein halbes Leben an dieser Frage: wie können wir gut (friedlich, freudvoll, nachhaltig, nährend, lebensförderlich) miteinander leben und was hält uns davon ab? Es gibt viele spannende Antworten darauf.

 

Eine ist definitiv eine Art Compliance für uns (westlich sozialisierte) Menschen. Wer Rechte hat, hat auch Pflichten und ich finde es wirklich spannend und lustig, dass wir ausgerechnet auf dieses Wort so stark reagieren...

 

Wir haben den Individualismus so sehr ausgereizt, es wird Zeit, dass wir uns wieder einpendeln und ein gutes Wir gestalten mit allem Leben, denn im Grunde sind wir ja alle gut. Und wir kümmern uns ja um das, was wir lieben, gern und dann ist in den Pflichten auch wieder Freude drin.

 

Ich bin sehr gespannt, welche Pflichten sich ergeben und wie wir denn geneigt sein könnten, diese zu erfüllen...

Und da meine Freiheit bei der des/der anderen aufhört, geht es wohl darum, Friedensarbeit zu leisten und Verbindung zu pflegen. Das ist Geben und Nehmen. Am besten in der Reihenfolge.

 

Und damit gebe ich weiter an Rainer. 

Franziska Hengl

www.franziskahengl.de


Rainer

(22/08/20)

 

Danke, liebe Gesprächspartner*innen, dass Ihr es mir gestattet, als letzter in der ersten Runde unseres transformativen Karussells zu gehen. Da ich der einstweilige Gastgeber unseres Austausches bin, versuche ich, diese privilegierte Position zum Wohle unserer gemeinsamen Bemühung zu nutzen. Bevor ich loslege, will ich mich trotzdem kurz vorstellen – weniger Euch anderen, die Ihr mich mehr oder weniger gut kennt; und z.T. besser als ich mich selbst, was meine Wirkung auf andere betrifft. Sondern den mir noch unbekannten Menschen, von denen ich mir wünsche, dass sie durch unseren Dialog verstört & berührt & verbunden & ermutigt fühlen:

 

Ich bin Jahrgang 1949. Ziemlich genau zum Gründungsmythos des demokratischen Nachkriegs-Deutschlands in die Welt geworfen. Eine kulturelle Welt, die sich auf den Weg machen musste & durfte, aus Ruinen aufzuerstehen, um es beim nächsten Mal besser hinzubekommen. Diesen anspruchsvollen Prozess bezeuge ich bewusst seit der Fußball-WM 1954 („Rahn schießt!“ – ich war gerade 5); dann zunehmend bewusst seit 1963 mit der Ankunft der Beatles und der angelsächsischen Pop-Kultur in meinem posttraumatischen kleinen Leben. Ich konnte auf einmal atmen!, und ich lernte mein Instrument, die Gitarre. Mehr und mehr wurde mir in den Sechzigern bewusst, dass der kulturelle Kontext, in dem ich klarkommen musste, nicht wirklich meine Heimat war.

 

Dann kamen Woodstock, LSD, die Gegenkultur, der Anti-Materialismus. Ich erinnere mich gut, dass der einzige materielle Gegenstand, für den ich sündhaft viel Geld ausgeben würde, eine HiFi-Stereoanlage war. Die Grünen, meine Brüder und Schwestern: eine Kulturrevolution, die all das in friedlicher Manier in die politische Arena brachte. Hoffnung!

 

Dann die Achtziger: von der Humanisierung der Arbeitswelt zur Monetarisierung der Menschenwelt: Reagan, Thatcher, das Unternehmertum als Ich-Ideal, das Individuum als Entrepreneur des eigenen Lebenswegs. Unentwegtes materielles Wachstum als Objekt der Besessenheit. Kollektiv wie individuell.

 

Meine Antwort darauf war, ziemlich synchron mit der Zeitenwende 89/90: die Fesseln jeglicher kollektiver Einbindung abstreifen, Job kündigen, gesetzliche Krankenversicherung kündigen, mich selbständig machen, die Arbeit mit Randgruppen aufgeben, endlich den Mainstream umarmen, die ‚Normalen‘ zum Gegenstand meiner Neugierde und Fürsorge machen. Eine neue ‚Karriere‘ als Organisationsanthropologe und Betriebsschamane gestalten. International arbeiten. Frei sein.

 

Die dunkle Seite: in den kommenden 20+ Jahren ließ ich mich (Freiberufler, haha!) vom Mainstream der ‚Normalen‘ zur Geisel nehmen. Schließlich waren sie meine Kunden, und das sind die König*innen, weiß man ja. Zwischen Anfang der Neunziger und ca. 2015 verbretterte ich nicht weniger als 875.000 Kilometer (das ist 21 mal um die Erdkugel) mit meinen Diesel-Kombis, sammelte so viele Flugmeilen, dass ich mit einem Passagierstatus beschert wurde, der mir peinlich war, arbeitete für Branchen, die ich nur auf explizite persönliche Anfrage diskret benennen möchte – alles mit der rhythmisch vorgetragenen Rechtfertigung an meinen inneren Kritiker, dass die Mainstream Muggels eben ‚Solace and Guidance – Trost und Orientierung) brauchen.

 

Ich machte mich schuldig, ich wurde zum Mittäter eines Lebensstils, durch den wir uns und Teile der Schöpfung vernichten. Ent-Sorgen. Ausrotten.

 

Seitdem – also seit 5, 6, 7 Jahren – während ich auch numerisch Ältestenstatus erreiche – bin ich zunehmend weniger bereit (und mittlerweile gar nicht mehr), mein kleines bisschen Wirksamkeit durch die Anbetung des Wachstums-Dämonen korrumpieren zu lassen. Ein Privileg, und wie jedes Privileg kommt auch diese mit einer Verpflichtung: dem Ganzen zu dienen, dass es sich halbwegs friedlich transformieren kann. Das ist mein innigster und äußerster Antrieb. Ich versuche das aus der Perspektive der globalen Ältestenschaft – denn meine Heimat, ich erwähnte es schon – ist kein Ort, keine Gegend, keine Nation, keine Kultur, sondern unser aller heilige Lebensgrundlage: Pachamama, Gaia, Großmutter Erde. 

Meine Kernaussage ist: 

 

Wir sind aufgerufen, uns von den ‚Herren der Welt‘ (danke, Boris!) zu den ‚Diener*innen der Erde‘ zu transformieren. Und zwar ruckzuck. Unsere Aufgabe ist es, zu bewahren.

 

Das ist unsere allererste Menschenpflicht. 

Praktisch gesehen braucht das eine Grundreinigung, einen Vollwaschgang dessen, was wir merkwürdigerweise gewohnt sind, als ‚konservativ‘ zu benennen – also als ‚bewahrend‘. Wen oder was bewahren also die, die sich damit identifizieren, ‚konservativ‘ zu sein? Unsere heilige Großmutter Erde gewiss nicht, und nicht die Vielfalt des Lebens, das sie bewirtet. Hallo?

 

Und auf dieser heiteren Note gebe ich den Staffelstab weiter, zurück an den Anfang für eine zweite Runde zum Einchecken. Mentoring der Einladung, auch Eure etwas längere Geschichte davon zu teilen, was euch bis hierher gelockt, geführt, gemahnt, ge-was-weiß-ich hat. Ich selbst musste mir die Erlaubnis geben das zu tun, damit wir nicht nur Positionen, sondern auch Prozesse miteinander teilen. Liebe Steffi, Tango? 

Rainer Molzahn

www.rmolzahn.eu



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