von Rainer Molzahn
Diese kurze Geschichte muss einfach erzählt werden: Im Prozess der Arbeit am Manuskript des Buches "Transformatives Coaching" hatte sich immer mehr, immer klarer und immer unabweislicher diese Kernfrage der menschlichen Lebensführung herausgeschält.
Und damit auch der Kern und die Klarheit dessen, worum es uns im transformativen Coaching geht: Wir wollen helfen, diese Frage in unserer Zeit im Geiste von Freiheit und Kreativität, von Wirksamkeit und Verantwortung zu beantworten. Einzeln wie gemeinsam:
Wie lebt man?
Das war im Herbst 2019, nach 1495 Tagen Schreib- und Denkarbeit, auf der Seite 361 von 460, nach Jahrzehnten des Lehrens und noch mehr Jahrzehnten des Lernens. Die Klarheit wurde inspiriert und provoziert durch die wiederkehrende Erkenntnis, wie unauflösbar individuelle und kollektive Entwicklung sind. Wie sehr wir die anderen brauchen und sie uns. Wie sehr aber auch jede schöpferische Veränderung bei uns als Person beginnt: Wir müssen bei der Antwort auf die Frage ‚wie lebt man‘ bei uns selbst anfangen, aber wir dürfen nicht bei uns selbst aufhören.
Dass es 1495 Tage und unzählige vorher brauchte, um diese Frage in ihrer Schlichtheit und Größe in einer Veröffentlichung überhaupt formulieren zu können, hat uns in vielschichtiger Hinsicht sehr beschäftigt, sobald sie in dieser Schlichtheit und Größe da war. Warum so lange? Schließlich sind wir Autor*innen doch gewiefte Profis des psychosozialen Gewerbes! Dass es so lange gedauert hat, ist nicht in erster Linie unserer persönlichen Psychopathologie geschuldet, die man ja gerade unserer Zunft gerne unterstellt. Da sind wir uns, jeweils und gemeinsam, nach vielen Jahren intensiver Arbeit mit uns selbst, mittlerweile ziemlich sicher.
Unsere Antwort im Spätherbst 2019 war:
„Unser gemeinsamer kultureller Langzeit-Prozess hat uns als jetzt lebende Personen an einen Ort transportiert, an dem die unverbindliche und kostenfreie Antwort auf die Frage ‚wie lebt man‘ nur noch aus einem kollektiven wie individuellen Achselzucken besteht: „Keine Ahnung. Wie soll ich das wissen. Man steckt ja nicht drin. Da muss ja jeder selbst … “. Wir Autoren wollen das gar nicht lächerlich machen, jedenfalls nicht nur, obwohl die Verführung groß ist. Denn unseren kulturellen Relativismus haben wir uns eingekauft mit unserem unter vielen Opfern erkämpften historischen Sieg über alle überkommenen Traditionen und Autoritäten, die uns über Jahrhunderte und Jahrtausende in absoluten Begriffen gesagt hatten, wie wir zu leben hätten – ohne uns jemals um Erlaubnis zu fragen, ohne unsere Fragen überhaupt zu ertragen. Deren wohlfeile Antworten, und die moralische Autorität, die diese Antworten überhaupt hörenswert machte, haben sich (spätestens seit der Aufklärung) längst erschöpft, korrumpiert und pervertiert (der Sozialismus, die ‚Zweite Welt‘ um 1990 war der einstweilen letzte kollektive Todesfall in dieser Abteilung).
Die meisten heute lebenden Menschen, so muss man argwöhnen, haben wahrscheinlich keine mentale Repräsentation mehr von diesen historischen Titanenkämpfen, den zugrunde liegenden kulturellen 5-Grenzen-Langzeitprozessen, oder ihrem Platz darin. Wir sind, was unser Wissen und unsere Gewissheit über die essenziellen und einfachen Wahrheiten der Lebensführung angeht, als Personen Opfer unseres kollektiven Erfolges geworden: Wir haben wirklich keine Ahnung mehr, wie man lebt.“
Wie gesagt, das war im November 2019. Das Covid19-Virus war schon in der Welt. Es tummelte sich bereits in vielen Gemeinden der Volksrepublik China und begann seine Reise über den globalisierten Globus, aber es hatte an unserer hiesigen (westlichen) kollektive Grenze gegen die Wahrnehmung noch nicht gerüttelt. Es fühlte sich also für uns also immer noch verwegen an, die Frage nach dem richtig gelebten Leben überhaupt öffentlich zu stellen. Fast, als ob wir befürchten müssten, Interessenten zu verprellen, Freunde zu befremden, Verbündete zu verlieren. Fast, als ob wir noch Zeit hätten für unsere persönliche und erst recht unsere gemeinschaftliche Antwort. Wer ist schon gerne Untergangsprophet?
Dann kam der März 2020. Die Arbeit am Manuskript eigentlich vollendet. Innerhalb von ein bis zwei Wochen avancierte Covid19 zur Pandemie, innerhalb von zwei bis drei Wochen wurden wir alle – als Personen, in unseren Rollen und Beiträgen zum Ganzen, als Gemeinschaften, Organisationen, und schließlich als menschliche Gemeinschaft – akut, unpersönlich und unerbittlich mit der Frage ‚wie lebt man‘ konfrontiert. Fast müsste man dem kleinen Virus dankbar sein, oder mindestens der Gottheit, die ihn bzw. es hervorgebracht hat …
In diesem Sinne fühlten wir Autor*innen uns dringend gefordert und ermutigt, dem fast vollendeten Werk noch einen Epilog (Liebe in den Zeiten der Pandemie) anzufügen, der genau dies zum Thema nahm: wie wollen, wie können wir leben? All dies in der demütigen Anerkenntnis, dass niemand wissen kann, wie die pandemische Krise ausgeht, und in der mutigen Unterstellung, dass es nicht helfen wird zu betreiben, dass alles wieder wird wie vorher. Denn das gibt es jetzt, wie in allen transformativen Krisen: ein Vorher und ein Nachher.
Die Beziehung des Nachher zum Vorher ist natürlich abhängig von dem Ausmaß, in dem die Antwort auf die Krise reaktionär oder schöpferisch ist. Das Gute an all dem ist: Wenn wir unter den gegenwärtigen Bedingungen von physischer Beschränkung unsere Augen und Ohren, unsere Sinne und unser Herz öffnen, können wir ganz unmittelbar wahrnehmen, ganz ohne auf Daten und Informationen zweiter, dritter und x-ter Hand vertrauen zu müssen:
Mittlerweile wird es wieder lärmender, die Menschen drängt es auf die Straßen, die Plätze und die Strände, und unserer Wirtschaft soll mit einem „Wumms“ (Vizekanzler Scholz) ein Tritt verpasst werden, damit alles wieder so wird wie vorher. Aber wir alle haben in den gerade zurückliegenden Monaten und Wochen unmittelbare sinnliche Eindrücke sammeln dürfen, wie während des ‚Lockdowns‘ der Heimatplanet aufatmete: Es war stiller. Man hörte wieder Vögel und anderes Getier. Wildes Leben kehrte bis in die urbanen Räume der Menschen zurück. Man sah wieder blaue Himmel ohne Kondensstreifen, die Sterne strahlten in ungesehenem Glanz, man konnte wieder atmen. Kein Zweifel: Das Leben kommt zurück, wenn wir es nicht verhindern.
All das, all diese unmittelbaren sinnlichen Evidenzen verleihen der Frage ‚wie lebt man‘ unter den Bedingungen der epochalen transformativen Krise, der Opfer und Täter wir sind, unleugbare Brisanz.
Wir transformativen Coaches sind bereit, unseren Beitrag zu einer schöpferischen Antwort zu geben. Wer, wenn nicht wir, wann, wenn nicht jetzt?
Ausführlicher und noch fundierter natürlich im Buch "Transformatives Coaching"
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