von Julian Gebhard
In den letzten Jahren ist eine große Kluft über die Frage entstanden, ob es objektive Nachrichten gibt und wie sie aussehen sollen. Zu häufig werden dabei Tatsachen mit ihrer Kommunikation verwechselt – absichtlich oder nicht.
Tatsachen kümmern sich nicht um Meinungen oder Darstellungen. Es gibt genauso wenig eine Meinung, ob sich unser Klima wandelt, wie es eine Auffassung darüber gibt, bei welcher Temperatur Wasser verdampft. Was sich aber beeinflussen lässt, ist die Deutung, mit der man diese Transformation denkt und beschreibt.
Jede Nachricht lässt sich bekannterweise unterschiedlich auffassen. Ein Glas enthält Wasser. Zu sagen, ob es halb voll oder leer ist, liegt an uns. Zu welcher Deutung wir uns entscheiden, macht den gesamten Unterschied aus.
Ein Beispiel: 2020 war das wärmste Jahr in Europa seit Beginn der Messungen vor 139 Jahren (mehr), 2021 wird diesen Rekord vermutlich toppen (mehr). Alternative: 2021 wird vermutlich das kühlste Jahr der mindestens nächsten 139 Jahre. Haha.
Aber ernsthaft: Uns stehen extreme Ereignisse ins Haus, das ist eine Tatsache. Aktuell schon erleben wir eine Pandemie, Fluten und Hitzewellen und daraus entstehende politische und soziale Krisen. Egal, nach welchen Kriterien man misst, sind die Dinge, die jetzt passieren, ein Vorgeschmack von dem, was kommen wird, so oder so. Entweder wir erfahren regelmäßiges, extremes Wetter, damit verbunden einen weiteren Kollaps zahlreicher Ökosysteme, damit verbundene wirtschaftliche und soziale Zusammenbrüche, damit verbundene Flüchtlingsströme und damit verbundene politische Konflikte. Oder wir widmen uns den – nicht weniger extremen – Schritten, die unternommen werden müssen, um das Schlimmste davon zu verhindern. Das bedeutet aber eine radikale, möglicherweise gewaltsame Transformation, nicht nur, wie wir wirtschaften, uns regieren und regiert werden, sondern die Art, wie wir überhaupt in diesen Kategorien denken. In jedem Fall wird es extrem.
Die Absicht meiner Worte hier ist es daher, den Blick auf drei Tatsachen zu lenken und die Möglichkeit einer Deutung vorzuschlagen.
Hier ist Tatsache eins: So sehr die EU, die UN, der deutsche Staat, seine Polizei, die Bundeswehr und andere große, nationale und supranationale Organisationen es euch auch glauben machen wollen: In den gefährlichsten Momenten der kommenden Klima-Katastrophen können sie euch nicht helfen.
Das heißt nicht, dass viele es nicht möchten. Nein, vielmehr liegt es schlicht außerhalb der Möglichkeiten des Staates, seine Bürger*innen in Katastrophen dieser Größenordnung zu schützen. Schon in den Fluten dieses Sommers war klar erkennbar, dass Hilfskräfte der Bundeswehr oder des THW nach wenigen Tagen an ihre Belastungsgrenze kamen. Viele Orte waren derart verwüstet, dass sie nur noch per Helikopter versorgt werden konnten. Luftbrücken sind überhaupt nur möglich, wenn es sich um einen limitierten geografischen Raum handelt, wie die Ortschaften in Westdeutschland. Was passiert, wenn es eine Metropolregionen wie Hamburg oder Berlin trifft, wenn Millionen von Leuten mit lebensnotwenigen Mitteln versorgt werden müssen? Hochwasser gibt es hier in Hamburg jetzt schon häufig.
Was passiert, wenn es mehrere Großstädte gleichzeitig trifft, zusätzlich zu ländlichen Gebieten? Was passiert, wenn andere Naturereignisse dazukommen? Die Waldbrandgefahr zum Beispiel wurde vom Deutschem Wetterdienst Mitte Juni auf die höchste Stufe gesetzt, die toten Bäume des kontinuierlichen Waldsterbens wird in Zukunft für noch mehr zahlreichen Zunder sorgen (mehr). Es gibt noch mehr Naturereignisse, die hinzukommen können. Was passiert zum Beispiel, wenn es parallel menschengemachte Erdbeben gibt? Erdbeben sind unüblich in Deutschland, werden aber durch Erdgasförderung, Fracking, selbst hier immer wahrscheinlicher (mehr).
Punktuelle Rettung ist in diesen Momenten möglich, systematische nicht. Die Enttäuschung darüber mag groß sein (mehr). Aber selbst ein hoch industrialisiertes Land wie Deutschland kommt jetzt schon an die Grenzen seiner humanitären Hilfsmöglichkeiten und wird in Zukunft darin versagen (mehr). Von Ländern ohne diese technischen Möglichkeiten ganz zu schweigen.
Das ist Tatsache Nummer 1: Die Institutionen, die euch beherrschen, sind in den Momenten, wenn es am meisten darauf ankommt, unfähig, euch zu schützen.
Ganz schön deprimierend, ich weiß. Es kommt aber noch schlimmer, also schnell zu Tatsache 2: Es mag zu zynisch sein, zu behaupten, Leuten in Machtpositionen dieser Institutionen sei die Sicherung ihrer eigenen Existenz in Katastrophen wichtiger als der Schutz aller ihrer Bürger*innen. Man sollte dann aber anmerken, dass es ein European Flood Awareness System gibt, das frühzeitig Warnungen an staatliche Stellen übermittelt hat. Gefolgt wurde ihnen aber zu spät, teilweise erst nach Einbruch der Fluten. Wie es dazu kam, ist noch unklar, aktuell schiebt man sich zwischen Kommunen, Ländern und Bund noch die Schuld zu (mehr). Wie es aussieht, wollte und will wohl niemand die Verantwortung und den verbundenen politischen Fall riskieren. Aktuell ermittelt die Staatsanwaltschaft, ob das ein Fall fahrlässiger Tötung ist (mehr). Punkt für die Zyniker also?
Derartiges Versagen von Leuten in Machtpositionen ist nämlich leider absolut keine Ausnahme. Die Soziologie nennt es elite panic, die Panik der Eliten - ein Begriff, der von Caron Chess und Lee Clarke der Rutgers Universität in New Jersey in den 1950ern geprägt wurde (mehr). Elite panic ist ein soziales Phänomen, das schon seit Jahrzehnten untersucht wird und für das es eine breite Basis an Belegen gibt: Die Leute, die in Katastrophen am wahrscheinlichsten den Kopf verlieren, irrational handeln und für mehr Chaos sorgen, sind nicht in der breiten Masse der Betroffenen. Es sind Menschen in Spitzenpositionen.
Um bei den Fluten dieses Sommers zu bleiben: Ein häufiges erstes Problem ist, dass sie Gefahren im Vorfeld nicht ansprechen. Viele von ihnen glauben, Leute würden sofort in Panik verfallen, wenn sie mit einer Katastrophe konfrontiert werden. Wir erinnern uns alle an die viel zu späte Reaktion Politiker aller Couleur letzten März, als schon längst klar war, dass sich ein tödlicher Virus auf der gesamten Welt ausbreiten wird. Die Handlungsunfähigkeit von Leuten wie Host Seehofer oder Herbert Reul (NRW-Innenminister) im Angesicht der Flutwarnungen hat sicher etwas damit zu tun. Eliten glauben, der „Masse“ könne solche Information nicht anvertraut werden, andernfalls drohe Panik und Plünderungen.
Wenn Katastrophen dann passieren, sind Eliten dann häufig außer Stande schnelle und angemessene Hilfe zu leisten. Jedem fällt hier sicher eine weltfremde Corona-Maßnahme ein. Aber um sich einmal von der Tagespolitik abzuwenden - hier zwei historische Beispiele:
1906 machte ein Erdbeben und ein daraus entstandener Brand San Francisco dem Erdboden gleich. Riesige Teile der Stadt waren zerstört, Zehntausende Leute obdachlos. Der Bürgermeister Eugene Schmitz und der General der ansässigen Truppen, Frederick Funston, waren sich sicher, das Trauma der Zerstörung hätte die niederen Triebe der Menschen entfesselt und Morde, Plünderungen und Vergewaltigungen seien an der Tagesordnung. Funston mobilisierte seine Männer und rückte in die Stadt ein, mit dem Befehl jeden Plünderer auf Sichtkontakt zu erschießen. Viele Soldaten ermordeten daraufhin unschuldige Menschen, deren einziges Verbrechen war, lebensnotwendige Nahrungsmittel, die andernfalls sicherlich schlecht geworden wären, aus Läden zu nehmen. Welche Besitzer man hätte bezahlen sollen, war ohnehin unklar, keiner war mehr da (mehr).
Wer denkt, heute wäre es anders ... Ein ähnliches Beispiel ist vielen von uns sicher noch im Gedächtnis: Hurricane Katrina und die Flutkatastrophe in New Orleans. Die Regierung und Medien waren damals fest überzeugt, dass Plünderungen und Vergewaltigungen schon Stunden nach Eintreffen der Wassermassen an der Tagesordnung waren. Erst viel zu spät wurde festgestellt, dass diese Berichte absolut nicht der Wahrheit entsprachen und sich häufig von Politiker*innen und Polizist*innen ausgedacht wurden, um drastische, gewaltsame und fehlgeleitete Reaktionen zu rechtfertigen (mehr). Die Formierung weißer Milizen wurde begrüßt, viele davon machten Jagd auf meistens schwarze "Plünderer". Die Polizei in wohlhabenden Stadtteilen verweigerten Flüchtlingen den Zutritt und schoss auf vermeintliche Plünder*innen. In einer Situation stürmte sie eine Kanalbrücke und eröffnete das Feuer auf unbewaffnete Zivilist*innen. 2 Leute starben, einer von ihnen wurde mit einer Schrotflinte erschossen und dann im Sterben von den Polizisten zu Tode getreten (mehr).
Bevor jemand jetzt sagt „Jaaa, das ist ja aber auch Amerika, hier wäre das anders.“ Nein, nicht wirklich: Die Polizei in NRW hat in den letzten Tagen wegen Plünderungen von Hilfsmitteln schon 1200 Platzverweise ausgesprochen und 18 Leute festgenommen. Und der sonst so zahme Armin Laschet redet von seiner Wut über Plünderungen (mehr). Die Polizei in Deutschland mag weniger blutrünstig sein als in den Staaten und der politische Diskurs weniger ätzend, aber die gleiche Panik der Eliten gibt es auch hier.
Alles sehr deprimierend bisher. Zum Glück ist die dritte Tatsache ein wahrer Hoffnungsblick: Die Eliten haben Unrecht. Ein jahrzehntelanges Studium humanitärer Katastrophen zeigt nämlich auch, dass es eine Gruppe an Menschen gibt, die regelmäßig jede Erwartung an Empathie und Hilfsbereitschaft übersteigt und für viele Betroffene die einzige wirkliche Rettung verspricht: normale Leute.
Eure Nachbar*innen, eure Freunde und eure Familie sind rein statistisch die wahrscheinlichsten Helfer in einer Katastrophe - Leute, die gemeinsam einer Gefahr ausgesetzt sind, finden stets Wege, diese Gefahren gemeinsam und pragmatisch anzugehen: Ärzt*innen und Pfleger*innen suchen nach Leuten, die medizinische Hilfe brauchen. Personen mit Handwerkstalent errichten notdürftige Behausungen. Wer das Equipment dazu hat, sucht nach Verschollenen. Junge Menschen wagen sich in zerstörte Gebiete und holen Nahrung und frisches Wasser und alte eröffnen Suppenküchen, die bestenfalls alle satt bekommen. Alles machen das, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.
Die Beispiele dieser Tatsache sind Legionen und auf keine Kultur und Nation beschränkt. Die Flutkatastrophe in Ostdeutschland 2013 hatte dieselben Schlagzeilen über die Opferbereitschaft und Solidarität in der Bevölkerung wie im Westen heute. Beispiele von Erdbeben in Italien oder Japan, Stürmen in den USA oder Bränden in Australien oder auch Höhlenunglücken in Thailand fallen mir aus dem Stehgreif ein (mehr). In allen Fällen beweisen Leute, dass sie besser sind als Eliten glauben.
Die Nachrichten in der Tagesschau am 06.08.2021 gießen leider Wasser auf meine Argumentations-Mühlen. Berichtet wurde über die Brände in Griechenland und der Türkei.
Hier der Bericht und O-Ton eines Griechen:
[Minute 1:17] „Das Feuer hier in der Region Attika war schon gelöscht, doch dann haben starke Winde es erneut entfacht. Die Anwohner sind verzweifelt Über SMS wurden sie gewarnt, aber die Feuerwehr kam nicht schnell genug, erzählen sie: [Ein Grieche im Interview] ‚Wir wissen vom Klimawandel, wir sind da sehr vorsichtig in Bezug auf Umwelt und Natur. Aber was hier passiert ist, ist ganz einfach: Unsere Regierung und die Institutionen haben nicht gut gearbeitet.‘“
Später im Beitrag zum Feuer in der Türkei:
[Minute 4:12] „Das Dorf Kos Atc rüstet sich gegen das Feuer. Freiwillige verteilen am Nachmittag Wasser und Lebensmittel an die Einsatzkräfte und Helfer. Die Flammen sind nicht mehr weit vom Ort entfernt. Auch viele Anwohner helfen bei den Löscharbeiten. Jeder wird derzeit gebraucht. Eine Türkin, Gül Ciftci Kahriman, im Interview: "Die meiste Hilfe gerade kommt von der Bevölkerung selbst. Viele Freunde rufen mich an und schicken uns das Notwendigste. Ich kann nicht behaupten, dass ich hier bisher viel staatliche Unterstützung gesehen habe."
Das muss ein Schock für alle Eliten sein. Nicht nur, weil ihr Menschenbild sich nicht mit den Tatsachen deckt, sondern die Rettungs- und Hilfeleistungen in allen dieses Fällen ohne rigide Hierarchien oder Geld funktionieren, also ohne alles, was sie vorher zu Eliten gemacht hat. Mehrfach schon wurden nach Katastrophen Gruppen an Soziolog*innen vom Staat geschickt, die Leute in den betroffenen Gebieten fragen sollten, wer sie zu ihrer Hilfe angeleitet habe. Die Antwort ist in der Regel immer die Gleiche und sehr deutlich: Niemand. (mehr)
Das Empfinden der Leute, die in solchen Situationen helfen können, ist nicht weniger deutlich. Psychische Krankheitsbilder bessern sich (mehr), Selbstmordraten fallen, Menschen blühen regelrecht auf, nehmen sich und die Gemeinschaft ihrer Mitmenschen zum ersten Mal bewusst war und fühlen sich lebendiger denn je. Trotz allen Grauens entfaltet sich ein Gemeinschaftsgefühl, das im sonstigen, modernen Alltag so selten ist (mehr).
Das gilt erst recht, wenn Alltag etwas ist, das sich seit 1 ½ Jahren regelmäßig vollkommen auf die eigenen vier Wände beschränken muss. Soziologen kommen dabei über die Jahrzehnte immer wieder zum selben Schluss: Forscher wie Emile Durkheim, Charles E. Fritz und Sebastian Junger beobachten ein ums andere Mal, wie es kaum eine Erfahrung gibt, die Menschen glückseliger macht, als wahrzunehmen, dass sie ein wichtiger und hilfreicher Teil der Gemeinschaft sind. Und es gibt kaum Situationen, die mehr Gelegenheit für diese Erfahrung geben als Naturkatastrophen (mehr).
Jedes Mal entsteht dann eine Große Verwunderung über diese Hilfsbereitschaft (mehr) – als wäre es ein Wunder und nicht das Normalste der Welt, dass Menschen sich um ihre Mitmenschen kümmern, wenn sie in Not sind.
Womit lässt uns das alles?
Zur Klarheit: Ich möchte weder den Eindruck geben, dass staatliche Organe komplett nutzlos sind, jede*r Politiker*in oder Polizist*in euch sofort das Messer in den Rücken rammen wird oder eure Gemeinde jedes Leid abwenden können wird. Aber die Tendenzen sind klar. Die Klimakatastrophe ist mächtiger als der modernste Staat und die Macht der Leute, die an seiner Spitze stehen, korrumpiert und verzerrt ihr Menschenbild.
Was ist also meine Deutung? Ein Teil von mir will sagen: „Wenn sie die größte Katastrophe unserer Epoche herbeigeführt haben und sie uns in ihr nicht helfen werden (mehr), auf jeden Fall nicht so gut, wie wir uns selbst… wofür brauchen wir unsere Mächtigen dann überhaupt??“ Aber nein, ich glaube in Angesicht ökologischen und politischen Zusammenbruchs ist es zumindest hier besser, pragmatisch zu sein, gewissermaßen sogar unpolitisch.
Daher:
Bildet Banden. Lernt eure Nachbar*innen kennen, vernetzt euch lokal. Findet raus, welche Hilfeorganisationen sich vielleicht schon in eurer Nähe befinden und wie ihr in ihnen solidarisch sein könnt. Findet raus, ob euch eher Brände, Fluten oder Stürme drohen. Legt ein paar Batterien, Erste Hilfe, Decken und Dosen zurück, die ihr mit Leuten teilen könnt. Lernt ein paar Knoten. Vereinbart sichere Treffpunkte. Lernt, welche Früchte und Pilze ihr in eurem Wald essen könnt. Und frischt euren Erste-Hilfe-Kurs auf, verdammt. Stabile Seitenlage rettet Leben.
Sich gegenseitig Obdach, Verpflegung und Halt zu geben, wird bald eine der wenigen Sachen sein müssen, die wahrlich unpolitisch sind. Wenn die Klimakatastrophe in eurer Gemeinde Einzug hält, wartet nicht auf Hilfe von oben, sondern haltet es mit diesem irischen Sprichwort:
„Its in the shelter of each other that the people live.“
„Im gegenseitigen Schutz leben die Menschen.“
Kommentar schreiben