von Rainer Molzahn
Ein Crashkurs in kultureller Kompetenz, und eine Aufforderung zum Tanz
Wie kann es angehen, dass es unserem lieben Deutschland so verzweifelt schwerfällt, kollektiv intelligent auf die Covid-19-Pandemie zu antworten?
Mittlerweile fragt man sich selbst in Ländern wie Brasilien (!!!), was eigentlich mit den reichen, privilegierten Deutschen los ist, dass es möglich macht, so erbärmlich mit der Krise umzugehen ...
O-Ton SPIEGEL:
‚Stehen zwei Brasilianer in einer kleinen Bar in São Paulo und trinken Bier. Im Fernsehen läuft eine Nachrichtensendung. Das Thema: die dramatische Coronalage in Deutschland. Die aktuellen Zahlen werden eingeblendet. Einer der Männer fragt ungläubig: »In Deutschland, echt?«. Der andere antwortet: »Ja, diese Irren lassen sich nicht impfen.«‘
Tatsächlich liegen die Impfquoten in Brasilien mittlerweile bei bis zu 95%, hier eiern wir immer noch bei 2/3 herum. Auch die am 1.12.2021 zwischen Bund und Ländern beschlossenen Maßnahmen (Böllerverbot!) sind so schwächlich wie hyperföderalistisch wirr. Warum? Hier möchte ich aus der Perspektive der kulturellen Kompetenz eine klare Diagnose stellen: es liegt an der allerheiligsten Kuh unserer demokratischen Systemkonstruktion – dem Föderalismus.
Deswegen jetzt ein Blick zurück auf den Gründungsmythos der Bunzreplik. Genauer auf den Zeugungsakt und die vorgeburtliche Entwicklung der Bunzreplik, in die ‚schlechten Jahre‘ zwischen 1945 und 49. Das sogenannte Dritte Reich hatte bedingungslos kapituliert, die BRD gab es noch nicht. Genauer: zur Chiemsee-Konferenz, auf Herrenchiemsee im Sommer 1948. Dort kamen im so wohlwollenden wie wachsamen Auftrag der 3 West-Alliierten die Ministerpräsidenten (wirklich allesamt Männer) der westdeutschen Bundesländer zum sogenannten ‚Verfassungskonvent‘ zusammen – mit der Aufgabe, eine entscheidungsfähige Beschlussvorlage zu einer (west)deutschen Verfassung für den anschließend in Bonn tagenden Parlamentarischen Rat zu erarbeiten. Wir halten hier schon mal fest:
Die Gründungsväter, die eigentlichen Herren der (west-)deutschen Nachkriegsordnung waren und sind die Länder-Chefs.
In der Chiemsee-Konferenz gab es zwar durchaus Diskussionen über das Verhältnis von föderaler zu zentraler staatlicher Gewalt, aber einen zentralistisch aufgestellten deutschen Staatsapparat wollte nach den kollektiven und individuellen Traumata des hyperzentralistischen Dritten Reiches wirklich niemand – am wenigsten natürlich die als Geister anwesenden externen Stakeholder, die Alliierten. Am ausdrücklichsten föderalistisch positionierten sich (Überraschung!?!?) die Bayern, aber auch ein paneuropäisch Gebildeter wie der Sozialdemokrat Carlo Schmid mochte sich für das Beziehungsgefüge des neuen Deutschlands nichts Kraftvolleres vorstellen als einen „Zweckverband administrativer Qualität“.
Das schließlich im Mai 1949 im Parlamentarischen Rat verabschiedete Ergebnis dieses posttraumatischen Informations-Bedeutungs-Prozesses war, dass die demokratische Nachkriegsordnung eben keine Verfassung, sondern ein provisorisches ‚Grundgesetz‘ erhielt. Zentrale Botschaft an die externen und internen Stakeholder: das freie Deutschland als (noch nicht ganz) Ganzes ist harmlos. Besser so!
Die Folge war, und bleibt: Die Bundesländer bekamen (dem föderalen Prinzip der Subsidiarität folgend) in vielen essenziellen Politikfeldern das Sagen. Bildung, Gesundheit, Kultur, innere Sicherheit und andere – eigentlich fast alle außer der Außen- und Verteidigungspolitik – waren und bleiben Ländersache. Die deutsche Wiedervereinigung 1990 wäre natürlich der angemessene Zeitpunkt gewesen, dem deutschen Volke eine Verfassung und nicht mehr nur ein Grundgesetz zu geben, aber dafür waren in den sehr nervösen Monaten kurz nach der Implosion des sozialistischen Ostblocks – und damit der bipolaren Weltordnung der Nachkriegszeit – keine Zeit und keine Nerven.
Westdeutschland hatte sich im westlichen Bündnis als hinreichend harmlos und verlässlich erwiesen, das Grundgesetz wurde den hinzukommenden 16 Millionen ostdeutschen Zentralismus-Opfern als Erfolgsmodell verkauft, und eigentlich wollten die sowieso hauptsächlich einkaufen und in Urlaub fahren. Und also änderte sich nichts im Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen – außer, das fünf neue föderalistische Player dazukamen die sich erneut aus ihren zentralistisch diktierten Systemstrukturen erlösen durften – bzw. mussten. Der Rest ist gemeinsame Geschichte, und allein das ist ein Grund zu feiern, oder?
ABER: in der Zwischenzeit hatte die Erde 50+mal die Sonne umkreist …
Weder der Kollaps der ‚New Economy‘ in Koinzidenz mit 9/11, in den frühen Nullerjahren, noch die Finanzkrise 2007/8/9, noch die Eskalation der ‚Flüchtlingskrise‘ 2015, noch 2020/21/22/…, als die Corona-Pandemie den transformativen Herausforderungen für unsere nationale Selbstorganisation die Krone aufsetzte: keine dieser globalen wie lokalen Scheitelpunkte vermochte es, uns zu einer zentralen, mutigen Antwort zu er-mutigen. Der oft zitierte und vielstimmig beklagte ‚Flickenteppich‘ der beharrlich subsidiären Antworten (also Maßnahmen, Taten) auf die erste, die zweite, die dritte, die vierte und – Gott verhüte es – fünfte Welle:
Zu spät, zu zaghaft, zu schwach, zu partikular, zu föderalistisch zerfleddert, zu wenig der eigenen globalen Verantwortung bewusst. Verwöhnt, dümmlich und unsympathisch.
Während die Herausforderung krass global ist: No-one is safe unless we are all safe! Immerhin hat Deutschland jetzt, mit dem Amtseid der neuen Regierung, gerade einen verdienten General der Bundeswehr mit der zentralen Orchestrierung der exekutiven Maßnahmen beauftragt. Wahrscheinlich ermutigt durch das (ausgerechnet!) italienische Modell. Mal sehen. Der Versuch an sich ist ja schon mal atemberaubend, für unsere hyperföderalistischen Verhältnisse.
Aber: Auch ein hochrangiger dekorierter Bundeswehr-Offizier wird in seinem Versuch, einen kraftvollen Beitrag zur Pandemie-Bekämpfung zu liefern, Begegnungen mit den föderalen Kurfürsten nicht vermeiden können. Und in diesen Begegnungen immer wieder den Kürzeren ziehen – so sind nun mal die mythologisch gegründeten Rangverhältnisse hierzulande: Die Richtlinienkompetenz (an sich schon ein merkwürdig erwürgtes Konstrukt) der nationalen exekutiven Zentralgewalt wird sehr zurückhaltend angewendet, im Bewusstsein der mythologisch-systemischen Rangverhältnisse: dünnes Eis!
Wo liegt die Lösung?
Es reicht nicht, wenn ‚die Politik‘ anders handelt – so sie das denn darf –, um anders auf uns Beherrschte zu wirken. Wenn das Ganze sich transformieren soll, muss sich der Souverän transformieren. Der oder die Eigner*innen. Die, denen das System gehört, müssen sich der Verantwortung ihrer Eignerschaft bewusst werden, schließlich ermächtigen sie die Mächtigen. Und das heißt für uns als demokratischem Souverän unseres Gemeinwesens, Ende 2021, mitten in der Pandemie, mitten in der Klimakatastrophe, mitten in der globalen Lifestylekrise des 5-Minuten-vor-12-Kapitalismus:
Wir müssen unseren Lebensstil ändern. Gründlich. Und schnell.
Noch können wir von den indigenen, naturverbundenen Kulturen lernen, wenngleich es täglich weniger werden, wenngleich mit jeder aussterbenden Sprache menschliche Naturkompetenz unwiederbringlich verlorengeht. Wir im Wandelforum unterstützen jedenfalls seit Jahren und von Herzen Initiativen und Projekte überall, die unsere globalen menschlichen Ressourcen bündeln, kanalisieren und in Handlungen übersetzen. Liebe Schwestern und Brüder weltweit, fühlt euch umarmt!
Was mich aber tief besorgt ist: haben wir noch genug Zeit?
Vor einigen Wochen wurde der demokratische Souverän in 10 Ländern der ‚ersten Welt‘ (US, UK, Frankreich und Schland, neben anderen) zum Zusammenhang befragt zwischen dem, was man öffentlich fordert und dem, was man privat zu tun bereit ist zu verändern. Spannende Fragestellung. Der Guardian fasste neulich das Ergebnis des Polls im November 2021 so zusammen:
Die Menschen bevorzugen Maßnahmen, die bereits Gewohnheiten sind.
Ummpf. Man fordert Veränderung, ohne sich verändern zu wollen. „Die Politik“ soll es richten, aber „die Politik“ ist unsere Dienerin! Wir erteilen und entziehen ihr das Mandat. Wenn wir also als Souveräne die notwendige Transformation als Personen nicht hinkriegen, werden wir damit die Systeme vergiften, deren Damen und Herren wir in unserer systemischen Rolle sind. „Ein demokratisches System ist gefährdet, wenn in transformatorischen Zeiten mehr und mehr Souveräne, in offensichtlicher Unterschätzung ihres Ranges, auf die Idee verfallen, sich als Opfer ihrer Führenden zu fühlen.“ ('Die heiligen Kühe...') Und das heißt dann im globalen Neusprech:
Not fit for Office. Der Rolle nicht gewachsen. Unehrenhaft entlassen oder als krank in die Quarantäne verwiesen. Und das sind noch die milderen Konsequenzen.
Unser trotziger Beitrag im Wandelforum dafür, dass so etwas bitte möglichst nicht passiert, unser Bestes dafür, dass das Bessere sich ent-wickeln kann, unser Flirt mit unserer aller Potenzial, kreativ zu werden, von kundigen Guides geleitet:
Unsere regionalen Wandel-Werkstätten.
Vor Ort, real, garantiert inspirierend. Von globalem Geist beseelt, von regionaler Diversität berührt. Seit unserer ersten Wandel-Werkstatt 2018 - und ermutigt durch die zweite in Berlin - leitet uns die Idee, unsere föderalen Mit-Souveräne im Sinne des Ganzen föderal zum Tango aufzufordern. Also, demnächst in einer Begegnungsstätte in deiner Region:
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Franz Iska (Samstag, 08 Januar 2022 21:59)
Love it ���✨�