von Anne Grökel
Jeden Tag warte ich, seit dem Ausbruch der Pandemie.
Mir ist vorher nie so bewusst gewesen, wie oft wir eigentlich warten. Aber wir tun es (fast) ständig, wir warten …
… auf das, was wohl kommt.
… darauf, dass es irgendwann vorbei ist.
… auf bessere Zeiten.
… auf die zweite Welle, den nächsten Lockdown, die nächste Pleite, die nächste Demo …
Oder auf unser Erwachen.
Ich höre so oft gerade: „Wacht endlich auf“. Manchmal in Verbindung mit „Du Schlafschaf“. Und ich denke, ja, wann wachen wir auf? Wann erkennen wir, dass zurück zu „vor der Pandemie“ nicht passieren wird? Wann fangen wir an, wieder im Hier und Jetzt zu sein, es so zu nehmen, wie es gerade ist? Wir stehen ständig in einer abwartenden Haltung.
Wenn allerdings Aufwachen bedeutet, mich den anarchischen Querdenker-Demos anzuschließen, um mit Extremisten jedweder Couleur gemeinsam die Situation völlig eskalieren zu lassen, dann schlafe ich lieber weiter. Weil dann eine Welt entsteht, in der ich keinen Platz haben will.
Wenn Aufwachen heißt, dass ich kleine Dinge für mich und meine Mitmenschen tue, die diese Welt auch mit einer Pandemie wieder zu einem schöneren Ort machen, bin ich hellwach. Ich möchte Menschen auf der Straße treffen, denen man ein Lächeln in den Augen ansieht, auch wenn sie eine Alltagsmaske tragen.
Ich möchte Menschen begegnen, die einander helfen, auch in diesen schweren Zeiten. Und vor allem möchte ich selbst so ein Mensch sein. Und je mehr Menschen dieser Art man trifft, umso mehr erwachen dabei. Solange unser System durch diese Umstände gezwungen ist, sich selbst zu warten, ist es für die Menschheit wichtig, miteinander und nicht gegeneinander zu agieren. Sonst wird der Wartungsprozess verzögert und es werden viele von uns auf der Strecke bleiben.
Und jetzt? Jetzt haben wir schon fast Advent. Viele fürchten um das Weihnachtsfest. Die Maßnahmen zur Unterbrechung der Infektionsketten werden gerade drastisch verschärft, damit wir in gewohnter Weise miteinander sein können. Auf der einen Seite ist das ein sehr verständlicher Wunsch. Auf der anderen Seite birgt diese Situation die unglaubliche Chance, diese eingefahrenen Pfade mal anzusehen und zu hinterfragen. Welche Bedürfnisse erfülle ich mir oder den anderen denn?
Ich warte jetzt jedenfalls auf Weihnachten. Denn Advent heißt Warten. Ich freue mich auf dieses Weihnachten. Ich freue mich auf Ruhe und Besinnlichkeit. Ich kann mich kaum noch erinnern, wann ich das letzte Mal ruhige, besinnliche Tage im Advent hatte. Oft waren die vier Wochen viel zu kurz, um die schönsten Weihnachtsmärkte Deutschlands zu besuchen, alle Geschenke zu finden und im alten Jahr nochmal ein paar Freunde abzuklappern. Da fiel die Besinnung schon recht kurz aus. Wie viele Adventskerzen am Kranz sind denn in den letzten Jahren wirklich mal runtergebrannt? Ich habe noch alle aus mindestens den letzten zwei Vorjahren, weil ich gar nicht dazu gekommen bin, mal in Ruhe auf der Couch zu sitzen und den Kerzenschein zu genießen.
Und wie oft haben wir noch das Gefühl, dankbar zu sein oder Dankbarkeit bei den anderen zu spüren. Kinder können die Geschenkeflut häufig gar nicht fassen und haben auch nach Tagen noch nicht alles verarbeitet, gesehen oder ausprobiert. Erwachsene schenken sich immer öfter Gutscheine oder Geld, weil wir keine Wünsche mehr haben, die präzise oder klein genug für eine Geschenkverpackung sind. Wir erleben keinen wirklichen Mangel an materiellen oder existentiellen Dingen mehr (zumindest in Deutschland).
Wirkliche Mangelerscheinungen haben wir emotional. Wir vermissen Zuwendung, Mitgefühl, Dankbarkeit und Liebe. Und ich glaube fest daran, dass jede/r bereit ist, dies anderen entgegen zu bringen. Aber solange wir dem Lärm der schnelllebigen Welt folgen, spüren wir diesen Mangel nur unbewusst.
Dieses Jahr wird es vielleicht oder hoffentlich anders. Dieses Jahr könnten wir die Stille spüren, wenn wir bereit sind, (uns auf) sie einzulassen. Das wird nicht immer leicht sein, da bin ich sicher. Wenn man die Stille lange nicht mehr gespürt hat, kann das richtig weh tun. Aber einen kleinen Vorgeschmack davon hatten wir im Frühjahr. Wir sollten uns diesmal besser vorbereiten. Wir sollten uns die Fragen notieren, die wir unseren Lieben zu Hause schon ganz lange mal stellen wollten. Wir sollten das Telefon aufladen und endlich die alten Freunde anrufen, die wir schon so lange nicht gehört haben, und ihnen sagen, dass wir sie vermissen. Wir sollten puzzeln und lesen und Gesellschaftsspiele spielen und gemeinsam Kochen. Aber vor allem sollten wir in uns gehen und den Emotionen nachspüren. Da werden wir viel Traurigkeit, Wehmut, Wut, Verletzlichkeit und Liebe finden.
Und wenn wir diese besondere Atmosphäre der Adventszeit zulassen, dann gelingt es uns vielleicht, diese Emotionen in schöpferische Kreativität umzuwandeln. Das ist die positive Energie, die es braucht, um den Wandel aktiv zu gestalten.
Ich bin hellwach und warte auf Euch!
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Verena (Dienstag, 24 November 2020 19:29)
Danke Anne�
Godot (Montag, 30 November 2020 22:18)
Bin gleich wieder da!