von Rainer Molzahn
In der Reihe ‚Menschen ehren‘ wollen wir Menschen danken und würdigen, deren Lebensweg und Beitrag zu einer besseren Welt uns inspiriert hat – und uns dazu aufruft, die gereiften wie die zarten Früchte unseres persönlichen Wachstumsprozesses zu teilen.
Der erste Mensch, den ich ehren möchte, ist der unvergleichliche Abie Nathan: Initiator und Kapitän des Piratensenders 'The Voice of Peace' während zweier Jahrzehnte des vermaledeiten Nahostkonfliktes...
Vor kurzem sah ich eine ARTE-Reportage zur Situation und zum politisch-kulturellen Prozess im Westjordanland. Sie erschütterte mich tief, weil sie zeigte, wie die Gewaltbereitschaft auf jüdischer wie auf palästinensischer Seite aktuell immer erbarmungsloser eskaliert - befördert durch die aggressive Siedlungs- und Infrastrukturpolitik Israels. Ganz besonders lebendig ist diese unheilvolle Eskalation in den jungen Generationen (Millenials / Gen Z – meine Söhne, meine Töchter, meine Enkel*innen – wie scheiß-ironisch ist das eigentlich???).
Ein Pulverfass, das die ganze Welt in Brand setzen kann. Und wird, wenn Polarisierung, Archaisierung und Täter/Opfer-Dynamiken weiter geschürt werden. Genau danach sieht es aktuell aus.
Alle politischen Bemühungen der letzten 50 Jahre, den ‚Nahostkonflikt‘ einer (Er-)Lösung zuzuführen, sind jammervoll gescheitert. Die Menschen sind zurück in ihren Wagenburgen. Aber auch in der Wagenburg Israel spitzt sich der Konflikt zwischen autoritären und demokratischen Kräften täglich zu. Gewalt liegt in der Region nicht nur „in der Luft“; sie ereignet sich täglich, mit progressiv zunehmender Unerbittlichkeit. Irgendeine Variation von Frieden im ‚Nahen Osten‘ scheint momentan weiter entfernt als zu irgendeinem Zeitpunkt des letzten Dreivierteljahrhunderts. Uff.
Und jetzt kommt Abie.
Die lange Geschichte
Abie Nathan ist mir ein Begriff seit 1969 - da war ich knapp 20, nach damaligen Maßstäben noch nicht volljährig. Mein Jugendheld John Lennon sang mit Yoko und der Plastic Ono Band die Hymne der Friedensbewegung – auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, zwei Jahre nach dem Sechstagekrieg, unter dem Eindruck einer drohenden nuklearen Weltkatastrophe:
In dem Song hörte ich das erste Mal Abie Nathans Namen, ahnend, dass an ihm etwas Besonderes, etwas Ehrfurchtgebietendes war. Aber es sollte viele Jahre – und viel Stationsarbeit – brauchen, bevor die Größe dessen, was Abie der Welt geschenkt hat, sich mir entfaltete. Meine nächste Station war:
Seit 1973 betrieb Abie diesen ‚Piratensender‘ von einem Schiff im Mittelmeer aus, knapp außerhalb der Dreimeilenzone Israels, Palästinas und Ägyptens, 24/07/365. Allein den Dampfer zu kaufen, zu finanzieren, zu transportieren und die gesamte Logistik und Technik zu bewältigen, die nötig war, bevor man auf Sendung gehen konnte, war eine weitere Heldenreise. John Lennon war hilfreich dabei, das Projekt auf die Beine zu stellen. Und weil ich John Lennon folgte, erfuhr ich davon.
Hier ist die ARD-Doku dazu aus - immerhin - 2014:
Kriegsheld und Verratsverdächtiger
Ich erfuhr, dass Abie schon 1948, in den dramatischen Geburtswehen des Staates Israel, als Kampfpilot im Dienste der britischen Royal Air Force an der Verwirklichung des großen Traumes nach dem großen Trauma des Holocaust beteiligt war: nach zweitausend Jahren Trennung, Vertreibung und Verfolgung wieder eine Heimat zu schaffen für jüdische Menschen aus aller Herren und Damen Länder.
Abie unternahm schon 1966 (ein Jahr vor dem schicksalhaften Sechstagekrieg!) als Pilot der El Al einen frei improvisierten, nicht autorisierten oder abgestimmten Friedensflug „Shalom 1“ nach Port Said in Ägypten, um dort bei Präsident Gamal Abdel Nasser für ein bisschen Frieden zwischen den Erzfeinden zu werben. Er wurde natürlich nicht vorgelassen, sondern nach Israel zurückexpediert. Dort musste er sich vor Gericht für seinen verratsverdächtigen „illegalen Grenzübertritt“ verantworten, wurde aber schließlich auf Kaution [ein sehr interessantes juristisches Konstrukt] freigelassen. Mich würde immer noch interessieren, wer die Kaution hinterlegt hat… (1991 wurde er für ein Treffen mit Jassir Arafat zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Nach einem Gnadenerlass des Präsidenten musste er ‚nur‘ sechs davon absitzen.)
Jedenfalls war dies für Abie eine transformative, lebensverändernde Erfahrung. Er beschloss, sein Leben von jetzt an nur noch dem Frieden zu widmen. Das erste Ergebnis dieser Transformation war – siehe oben – der Piratensender „from somewhere in the Mediterranean“. Über ihn sandte Abie zwanzig Jahre lang seine Friedensbotschaft in die Länder des Nahen Ostens. 24/07/365. Nicht, indem er predigte oder belehrte. Er und sein Team setzten einfach die verfeindeten Gemeinschaften denselben Pop-, Disco- und Rock-Musiken aus, die in den Jahren auch in den ‚westlichen‘-Mainstream-Medien populär waren. So unaufdringlich wie mächtig:
Sobald und solange wir denselben sinnlichen Eindrücken ausgesetzt sind, sind wir einander nicht vollkommen fremd.
Der ‚technische‘ Ausdruck, den wir im Wandelforum für dieses Phänomen gefunden haben, ist ‚latente bzw. naive Kommunion‘ – nicht der Weisheit letzter, aber der unersetzliche erste Schluss: Gemeinschaft entsteht zuallererst dadurch, gleichzeitig in Echtzeit etwas zu erleben. Am besten am selben Ort, aber hauptsächlich zur selben Zeit. Einander Zeugen dafür zu sein, dass das Erlebte nicht wahnhaft, nicht Traum, nicht Täuschung ist, und war: dass man sich immer wieder der Realität des gemeinsam Erlebten versichert. Essenziell unersetzlich. Wie sonst würde man die Attraktivität von ‚Ehemaligentreffen‘ verstehen können? Vom Klassentreffen über das Schlesiertreffen und die Posthoc-Kommunion von Flutopfern bis zur feierlichen ‚Wiedervereinigung‘ ehemals verfeindeter Weltkriegsveteranen?
1993 fand dann der Oslo-Friedensprozess statt, unter der Ältestenschaft der Vereinten Nationen, als dessen Ergebnis eine Zwei-Staaten-Lösung sichtbar wurde, die die vitalen Interessen sowohl Israels auch der Menschen in Palästina gewährleisten könnte.
Damit, so schien es, war auch die Mission der Voice of Peace erfüllt. Auch waren die Ressourcen erschöpft, nach ca. 20 Jahren 24/07 – also nach sage und schreibe 7305 vollen Tagen auf Sendung.
Von jetzt an war Abie frei, seine Friedensmission mehr als zwei Parteien zu widmen, und er arbeitete die nächsten Jahre viel in Afrika: auf dem Kontinent, der sicher die größte Vielfalt an Opfererfahrungen in der Begegnung mit den ‚großen Nationen Europas‘ bewältigen musste, und immer noch muss. Dafür erhielt er 1997 den Nürnberger Menschenrechtspreis.
Abie starb, nachdem er 1997 während eines USA-Aufenthalts einen Schlaganfall erlitten hatte, in Tel Aviv im Jahre 2008. Er wurde 81 Jahre alt. Der Wikipedia-Artikel über ihn endet mit den Worten:
„Die Kernthese, die Nathan als ehemaliger Kriegsteilnehmer vertrat, war, dass es jederzeit möglich sei, sich zu ändern, und es auch ganz normalen Menschen aus dem Volk möglich sei, 'Wunder' zu vollbringen, da ein Mensch allein eben nicht machtlos sei, sondern immens viel bewegen könne.
‚Nissiti‘ (dt.: Ich habe es versucht) lautet die Inschrift auf seinem Grabstein.“
Wie Abie Nathans Geschichte mich inspiriert hat
Um es kurz zu machen, Bottom Line: ich bin tief berührt von Abies Beitrag zur Schaffung einer besseren, weniger unglücksverhafteten Welt. Und mehr als ein bisschen schamhaft, nicht schon viel früher und lauter für sein Erbe eingetreten zu sein. Und ich bin zutiefst verwundert darüber, dass niemand diesen wunderbaren Menschen noch kennt. Fragt mal im Bekanntenkreis!
All das, während ein solcher Beitrag zur multipolaren Polykommunion im Angesicht der Täter/Opfer-Eskalation im Nahen Osten (und beileibe nicht nur dort, sondern weltweit!) dringlicher und ausschlaggebender erscheint als seit Jahrzehnten, mindestens. Vielleicht sogar nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden, denn unsere Täter/Opfer-Verstrickungen sind seeeehr alt …
Und, wie das so geht: während ich an diesem Blogbeitrag arbeite, werden mir die drei Kriterien bewusster, an denen ich ausrichte, wen ich in Bezug auf was ausdrücklich und von Herzen ehren möchte:
Heimat und Fremde durchleben
Abie wurde als Kind jüdischer Eltern geboren im islamischen Iran. Er wuchs auf im hinduistisch geprägten Mumbai und ging dort auf eine erzkatholisch geprägte Jesuitenschule. Er wurde also schon früh mit den Engeln und den Dämonen kultureller und spiritueller Zugehörigkeit konfrontiert, und er konnte Zwischenräume der Dämmerung zwischen dem Schwarz/Weiß von Freimat und Hemde erkunden, die man einfach braucht, um in dem interkulturellen Gewusel klarzukommen. Das hat ihn dafür ausgerüstet, Heimat und Fremde nicht nach naiven Maßstäben zu sortieren, sondern das Fremde im Eigenen so wie das Eigene im Fremden zu würdigen (also im schönsten Sinn kulturelle Kompetenz zu erwerben).
Täter und Opfer durchleben
Abie war vor diesem Hintergrund als Bomberpilot und Mitglied der britischen und der israelischen Streitkräfte der ganzen Erbarmungswürdigkeit bipolarer Täter/Opfer-Dynamiken ausgesetzt, mit denen sich die jüdische Nation konfrontiert sah, in dem Versuch, eine neue alte Heimat zu bauen. Die anderen sind die Bösen, wir sind die Guten. Jeweils. Das ‘Wunder‘, dem er sein Leben gewidmet und dessen er uns alle im obigen Zitat für fähig erklärt, besteht also darin, sich aus der Gut/Böse-Verdammnis zu befreien, die Richard Powers so schön in die Worte gefasst hat: „Das Böse ist nichts anderes als unsere Weigerung, uns im Anderen zu sehen.“ Und umgekehrt, wie ich ergänzen möchte.
Innovation und Verrat durchleben
Abie musste an mehreren Stellen in seinem Leben erfahren, dass seine von den besten und liebevollsten Ein- und Absichten inspirierten Aktionen und Projekte von den verschiedensten Seiten (also Stakeholdern – das sind Leute, die von uns und von denen wir abhängig sind) als verräterisch verstanden wurden. Abie war für sie ein Wolf des Wandels geworden, ein Verräter. Das ist das Schlimmste, dessen man sich als Mitglied einer Gemeinschaft schuldig machen kann. Auf Verrat steht die Höchststrafe. Um es zuzuspitzen: der schnelle Tod auf dem Schafott, oder der langsame Tod in der Verbannung.
Aus all dem mit einer nicht totzukriegenden Liebe für die Menschen und immer wieder produktiv hervorgegangen zu sein – das ist wahrscheinlich im tiefsten Sinne das, wofür ich Abie hier danken und ehren möchte.
Abies Vermächtnis
Was mich so besonders bezaubert: dass Abie seine weiteste Ausstrahlung mit einer sehr ‚niedrigschwelligen‘ Idee erreichte: dieselbe Musik hören. Daraus ergibt sich für mich die Frage:
Welche Musik hören die jetzigen Generationen gleichzeitig, weltweit?
Es gibt Pop Idol, Arab Idol und ähnliche Formate längst in allen Ländern, die Stakeholder des Nahostkonfliktes sind, und weltweit in vielen anderen…
Es gibt den Eurovision Song Contest mittlerweile über alle Grenzen und Kulturen hinweg, weltweit…
K-Pop (eine an westlichen Vorbildern und Vorklängen gewachsene südkoreanische Weltmusik – dargeboten und verkörpert von einer Generation, deren Eltern wahrscheinlich genau die Musik absorbierten, die Abie und seine Gefährt*innen in den 70ern und 80ern in den Äther schickten) ist ein wirklich globales Phänomen…
Soweit ich feststellen kann, hat diese latente Kommunion bisher nicht verhindern können, dass die Konflikte in der Welt gewalttätiger, unreifer und irgendwie dümmer ausgetragen werden als zu Abies Zeiten. Sie ist halt nur ‚latent‘. Sehr zart. Sehr brüchig. Daraus ergibt sich für mich so wie für uns alle die Frage:
Braucht es für unsere globale Polykommunion (die unsere Vielfalt-in-Einheit feiert) etwas mehr, als dasselbe zu hören? Damit wir noch anderes hinterlassen könnten als „Wir haben es versucht“?
Bei aller Ehrung und allem Dank für den unersetzlichen Beitrag von Abie?
Müssten wir vielleicht beginnen, zusammen zu singen?
Um es wiederum zuzuspitzen:
Was müssten wir miteinander singen, und wie, und wo, um uns nicht umzubringen? Wie können wir durch gemeinsames Tun unsere Polykommunion eine Stufe höher tragen, fast ohne Anstrengung?
Immerhin gibt es auch für diesen Versuch Vorbilder, die Ehrung und Dank verdienen:
Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra, Peter Gabriels WOMAD, die wunderbare Initiative ‚Playing for Change‘ oder andere. Nur: Das sind alles Profis.
Wir brauchen – das ist meine Anregung im Augenblick – eine globale Hymne der Polykommunion für Amateure. Für Liebhaber*innen.
Ich glaube, dafür haben wir Abies Segen. Oder, Abie??
Liebe Musiker*innen weltweit, fühlt euch eingeladen!
Lasst uns die Weltmusik erschaffen, die die Welt jetzt braucht!
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Marcus (Dienstag, 05 September 2023 09:19)
Lieber Rainer, was für eine Geschichte, die du hier in Erinnerung rufst. Vor Wochen schon hast du mich auf Abie Nathan aufmerksam gemacht. Ich habe gelesen, geschaut und vor allem gehört, was mit Abie zutun hat. Meine Frau und meine beiden Söhne können wie ich, mittlerweile "Give Peace a Chance" von John und Joko im Schlaf mitsingen. Die Zeile "Abienation" aus dem Song, bleibt ein Vermächtnis für kommende Generationen. Noch mehr als einen Wolf des Wandels, sehe ich in ihm so etwas wie tough love. Nicht nur die Hingabe, Liebe (und der Liebe hat geliebt) und das Vertrauen in die Menschen prägen sein Wirken, sondern auch und vor allem die Power ins Handeln zu kommen, lassen mich staunen und Mut schöpfen. Ich bin (mal wieder dank dir) inspiriert und nehme mir vor, die Geschichte von Abie weiterzuerzählen. Von Herzen, vielen Dank für diesen, deinen Beitrag hier! P.S. Die Welthymne der Amateure bekommt meine volle Unterstützung!
Ein fühlendes Wesen (Donnerstag, 09 November 2023 09:10)
Mensch Rainer.
Dein Text ist soo toll, soo berührend. Du sprichst mir aus der Seele, so von Alt-Hippie zu Alt-Hippie :-). Wir müssen die Menschlichkeit wahren, in der Tat!
John L. hab ich auch -bis heute- im Sinn und im Herzen!
Dranbleiben + weitermachen!
Juergen
Ein fühlendes Wesen _nomml (Donnerstag, 09 November 2023 11:58)
kleiner Nachtrag:
Bono (ich hab die Musik geliebt) hat in den 80ern "in the name of love" (to: Martin Luther King) geträllert, heute tanzt er an ner Stange in der Sphere in Las Vegas (....) als ob er das noch nötig hätte, aber lassen wir das.
ich bin für nen neuen Song/Titel: in the name of humanity!
One People= wir sind alle eine Menschheit, mehr nicht, aber auch nicht weniger.
Nattali Rize - Rebel Frequency
ab min11:30
One People, One Nation, One Destiny!
https://www.youtube.com/watch?v=xfGBl76wKuw
bleibt solidarisch.
Juergen
Baby Nathan (Donnerstag, 09 November 2023 18:30)
Liebes fühlendes Wesen:
genau! Und deswegen ist das Motto 'Polykommunion'.
Kuckstdu hier:
https://www.wandelforum.de/die-freude-im-chor-zu-singen/
Keep up the good work!