von Rainer Molzahn
Nun ist es also wahr geworden, was sich in den vergangenen Wochen immer mehr abzeichnete, was aber niemand wirklich wahrhaben wollte, bevor es wahr wurde:
unsere britischen Freunde haben sich zwar knapp, aber deutlich genug für einen Abschied von der Europäischen Gemeinschaft entschieden.
Es ist noch viel zu früh zu wissen, was diese Entscheidung alles nach sich ziehen wird, für das Vereinigte Königreich, für Europa, für die Welt und jeden von uns, und der Prozess bis zur endgültigen Scheidung ist komplex, noch nie beschritten und wahrscheinlich schmerzhaft langwierig. Die Liste derer, die auf internationaler Bühne den Schritt der Briten begrüßen, ist vielsagend: Russland, die iranische Führung, Kim Jong Un, Donald J. Trump und die Rechtsauslegeger in ganz Europa sind ganz hingerissen von den neuen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, wenn die EU zerbröselt.
Schock schwere Not
Ich selbst bin erschüttert und traurig und möchte es eigentlich immer noch nicht glauben.
In der Nacht, in der sich das Referendum entschied, wälzte ich mich in einem Hotelbett hin und her, es war eine sehr unbritische schwülheiße Nacht. Um 3 Uhr morgens griff ich zum Smartphone, checkte die Nachrichten, und seitdem bin ich damit beschäftigt, zur Realität des Brexit und seinen Folgen aufzuwachen.
Meinen englischen Freunden geht es auch nicht anders, und wenn ich die öffentlichen Diskussionen auf der Insel verfolge, spüre ich in vielen Beiträgen genau das: Fassungslosigkeit, Trauer, zum Teil Reue (‚Buyer’s Remorse‘), dann sich widerstrebend der Realität stellen:
‚Don’t it always seem to go that you don’t know what you got till it’s gone?‘, wie Joni Mitchell einst sang.
Europäische Gefühle
Aber es gibt auch etwas Schönes und irgendwie Tiefes an den Gefühlen und Gedanken dieses Augenblicks. Endlich kommt mal an die Oberfläche, was in den Kampagnen und Diskussionen im Vorfeld des Referendums in deprimierender Weise abwesend war: europäische Verbundenheit, gemeinsame Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und Bindungen – und nicht nur ökonomische Vor- und Nachteile, Standortwettbewerb und Materialismus und Kirchturmpolitik.
Das berührt mich sehr, weil es eigentlich eine solidere und verlässlichere Basis für die EU ist als alle ökonomischen Rechenschiebereien.
Angebote, die man nicht ablehnen kann...
Und das Beste: humorvolle Signale der Verbundenheit kommen aus ganz vielen Ländern Europas. Der Guardian veröffentlichte die Ergebnisse der intereuropäischen Aktion ‚Adopt A Brit‘:
- Irland preist sein atlantisches Klima an, und dass es hier auch ‚Full English Breakfast‘ gibt, nur dass es hier eben ‚Full Irish‘ heißt.
- Rumänien verspricht mit seiner Kampagne ‚Romanians for Remainians‘ eine glänzende wirtschaftliche Zukunft.
- Italien wirbt natürlich mit Wetter und Essen, aber auch mit seiner eigenen nationalen Verrücktheit – anders als die britische, aber genauso unterhaltsam.
- Portugal bietet seine Universitäten an, fast genauso hoch gerankt wie die britischen, aber für einen Bruchteil der Kosten.
- Hannover führt seine Kneipen ins Feld, dass man Marmite und HP Sauce überall kriegt, und dass man auch selbst eine Neigung zu übermäßigem Trinken und sozialer Unbeholfenheit hat.
Und so weiter. So macht Europa doch eigentlich Spaß.
Vielleicht wird ja doch noch alles gut. Schaun mer mal.
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