von Rainer Molzahn
In den vergangenen drei Beiträgen dieser Reihe habe ich kollektive Intelligenz aus der Perspektive erforscht, welche Möglichkeiten es gibt, gemeinsam dumm zu sein. Dabei standen jeweils der kollektive Informationsverarbeitungsprozess (Teil 5), systemische Strukturen (Teil 6) und örtlich wie zeitlich verzögerte Rückwirkung auf das gemeinsame Handeln (Teil 7) im Mittelpunkt.
Diesmal will ich in gewisser Weise zum Informationsverarbeitungs- und Bedeutungsgebungsprozess zurückkehren, mit der Frage: welche eine Kraft ist es eigentlich, die kollektives Lernen an allen 5 Grenzen nachhaltig verhindern kann, sogar mit der Folge, lieber gemeinsam unterzugehen als sich zu verändern?
Kollektive Identität
Die kurze Antwort hier: Das, womit man gemeinschaftlich am allermeisten identifiziert ist.
Das, was einen gemeinsam vom Rest der Welt unterscheidet, was (oft in Symbolen und Emblemen verdichtet) die Essenz des ‚Wir‘ repräsentiert, um das herum man sich versammelt. Die kollektive Identität, ohne die es überhaupt kein Wir-Gefühl gäbe.
Ein Beispiel, das mich seit Jahren immer wieder beschäftigt, wenn ich mich darüber wundere, wie eine Gemeinschaft sich auch im Angesicht von niederschmetternden und sich wiederholenden Beweisen des Gegenteils standhaft weigern kann zu lernen, ist der Umgang unserer lieben amerikanischen Freunde mit der Schusswaffengesetzgebung.
Das Recht, Waffen zu tragen, ist derartig verschmolzen mit der nationalen Identität der USA, dass es sogar in der Verfassung garantiert wird. Der zweite Verfassungszusatz von 1791 lautet:
Da eine wohlgeordnete Bürgerwehr für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.
Damit ist es nicht nur politisch fast unmöglich, Waffengesetze zu erlassen, die dem „gesunden Menschenverstand“ (Barack Obama) verpflichtet wären und schreckliches und überflüssiges Leiden verhindern könnten. Dafür brauchte man die Republikaner, und die denken überhaupt nicht daran, bei so etwas mitzumachen. Im Gegenteil ... erlaubt ihnen jede auch noch so schüchterne Initiative zu mehr gesundem Menschenverstand in dieser Angelegenheit, sich mit noch geschwollenerer Brust als die eigentlichen Hüter der kollektiven amerikanischen Identität zu präsentieren. Alle Politiker, Republikaner wie Demokraten und Unabhängige, stehen zudem unter aufmerksamer, nie ermüdender Überwachung der National Rifle Association (NRA), der eigentlichen Gralshüterin des amerikanischen Wesens: Diese mächtige Organisation überwacht u.a. das Abstimmungsverhalten aller Abgeordneten in Senat und Repräsentantenhaus und vergibt individuelle Noten, in denen sich die relative Treue zum Zweiten Verfassungszusatz spiegelt.
Wer da ein schlechtes Ranking bekommt, hat kaum Chancen auf ein öffentliches Amt. Selbst wenn, wie es nach den häufigen Massenerschießungen regelhaft vorkommt, bis zu 80% der NRA-Mitglieder sich in Umfragen für pragmatische Gesetzesänderungen aussprechen, bläst die Führung der NRA nur noch unbeirrbarer ins Horn uneingeschränkten Waffenbesitzes. Nach ein paar Tagen ist dann wieder alles ruhig.
Was ich damit sagen will: die NRA hat kein politisches Mandat. Sie repräsentiert nicht wirklich irgendeine Mehrheit. Sie zeigt, dass es möglich ist, die kollektive Identität zu kapern und zur Geisel zu nehmen, wenn man genug Geld und Einfluss hat und durchtrieben genug ist, dies mit dem kollektiven Wesenskern zu verbinden.
Die weitergehende Auswirkung all dessen ist noch tiefer, als auf politischer Ebene unmittelbar sichtbar ist: Identität hat Grenzen. Das Konzept ist nur denkbar und sinnvoll, wenn und solange es impliziert, was Nicht-Ich, Nicht-Wir, was also fremd ist und nicht eigen.
In diesem inhaltlichen Kontext bedeutet es, dass Stimmen, die sich für ein gemeinsames Lernen aus den grauenhaften Massenerschießungen aussprechen (so viele Kinder unter den Opfern und Tätern!), als Agenten des Fremden gebrandmarkt und isoliert werden. Das hat eine ethische und eine psychologische Dimension, und auch eine, die mit kollektiver Intelligenz und ihrem Gegenteil zu tun hat: Wenn Erkenntnis, wenn Lernen Verrat ist, werden jene, die dies repräsentieren, aus der Debatte in der öffentlichen Arena ausgeschlossen, weil man mit Verrätern nicht redet. Ihre Stimmen stehen also der kognitiven Diversität, die kollektive Intelligenz konstitutiv braucht, nicht zur Verfügung: das Ganze wird dümmer.
Die Macht des Mythos
Die eben schon angedeutete psychologische Ebene von Eigen und Fremd ist so machtvoll, weil sie für jedes einzelne Mitglied die Frage aufwirft, wie man sich verhalten muss, was man von sich zeigen darf, um dazu zu gehören und nicht als Agent des Fremden an den Pranger gestellt zu werden. Sie ist aber auch für die kollektive Psychologie bedeutungsvoll, für die große Geschichte dessen, was und wo die gemeinsamen Wurzeln waren, wie alles begann und sich entwickelte, welche Bestimmung in all dem liegt, die Geschichte der großen Siege und Niederlagen und also des kollektiven Transformationsprozesses über die Zeit – so, wie sie sich gegenseitig von den Mitgliedern erzählt wird, von den Lehrern den Schülern, von den Eltern den Kindern, von den Alten den Jungen. Kurz gesagt, der Mythos.
Der Mythos einer Gemeinschaft ist in gewissem Sinne ‚heilig‘, weil er so etwas wie eine kollektive Seele konfiguriert. Es gibt keine Gemeinschaft ohne eine große Geschichte, die ihre Mitglieder teilen. Der Begriff ‚Mythos‘ beinhaltet auch eine gewisse Abgrenzung zu so etwas wie ‚Geschichtswissenschaft‘, und häufig sind Mythen ja auch nicht deckungsgleich mit den historischen Tatsachen, um es mal milde auszudrücken.
Der mythologische Wesenskern der amerikanischen Nation ist repräsentiert im siegreichen Kampf freier, bewaffneter Bürger gegen die Übermacht der feudalen britischen Kolonialtruppen in den 1770ern und 80ern. Als Ergebnis dieses Triumphes wurde aus 13 Kolonien ein Staat. Dieser Staat gehört den Bürgern, die ihn gründeten, und nicht umgekehrt. Die Eignerschaft wird durch das Recht auf Waffenbesitz garantiert, und jeder Versuch, es zu relativieren oder gar abzuschaffen, ist tendenziell Totalitarismus oder gar Kommunismus – jedenfalls abgrundtief unamerikanisch.
Die geschichtliche Wahrheit des Revolutionskrieges und des Gründungsprozesses der USA ist natürlich weit komplexer als seine mythologische. Howard Zinn hat das in seiner ‚Geschichte des amerikanischen Volkes‘ detailliert dargelegt. Aber das tut der Macht des Mythos keinen Abbruch: Nicht wenige Amerikaner wäre eher bereit, die eigene Regierung zu stürzen und bei dem Versuch zu sterben als sich dieses Recht von ihr nehmen zu lassen. Oder, im Sinne kollektiver Intelligenz lapidar zusammengefasst: lieber tot sein als lernen.
Kollektive Intelligenz - ein Langzeitprojekt
Ich habe das Beispiel der amerikanischen Waffengesetzgebung nicht gewählt, weil es grotesker oder skandalöser wäre als andere Inzidenzen kollektiver Lernverweigerung. Sie sind Legion, sie umgeben uns alle, und wir sind alle Teil von und Mitwirkende an ihnen.
Ich habe es gewählt, weil es grell und aktuell ist, und weil die beginnende heiße Phase der Vorwahlen in den USA uns immer wieder auch mit diesem Thema konfrontieren wird.
Eins ist klar, nach all diesen Betrachtungen: kollektive Intelligenz ist ein Langzeitprojekt. Geduld, Geduld, Bauchatmung, leichtes Lächeln.
Und trotzdem: Was kann man tun? Besonders, wenn man Führungsverantwortung trägt?
Dazu mehr im nächsten Teil, wenn es heißt: kollektive Intelligenz, aber echt ey!
Kommentar schreiben