von Rainer Molzahn
Ein weiteres Mal in dieser Reihe möchte ich der Frage nachgehen, wie man es anstellen kann, gemeinsam richtig dumm zu sein. Wenn man nämlich nicht verstanden hat, wie das geht, kann man auch nicht gemeinschaftlich schlauer werden. Nachdem ich im letzten Teil hauptsächlich die systemischen Verstrickungen aufgezählt habe, die hier hilfreich sind, will ich diesmal eine andere Variation kollektiver Lernverweigerung betrachten, die weniger mit dem Beziehungsgeflecht zwischen Menschen zu tun hat als mit den Beziehungen zu Zeit und Raum.
Feedback mit Verzögerung
Intelligenz, individuelle wie kollektive, lässt sich auch beschreiben als die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen. Oder, abstrakter ausgedrückt: Intelligenz ist das relative Ausmaß der Fähigkeit, die Rückwirkungen des eigenen Handels als Information dafür zu verwenden, das eigene Verhalten so zu verändern, dass man erfolgreicher angepasst ist (‚Survival of the fittest‘).
- Je schneller man lernt, desto schlauer;
- je langsamer, desto gefährdeter;
-
gar nicht lernen = akut vom Aussterben bedroht.
Das alles ist noch relativ einfach, wenn die Rückmeldung auf das Verhalten schnell erfolgt und sinnlich unmittelbar zur Verfügung steht, nach dem Muster der heißen Herdplatte.
Der Unterschied zwischen individuellem und kollektivem Lernen besteht aber auch unter solchen Voraussetzungen darin, dass es in Gruppen bereits einen Kommunikations- und Bewertungsprozess braucht, bevor die Gruppe (oder die, die sie repräsentieren …) die Entscheidung trifft: Anfassen verboten!
Je länger es dauert, bevor die Rückwirkungen der Welt auf das eigene Handeln wieder bei einem eintreffen, desto leichter fällt es sich einzureden, es gäbe wahrscheinlich keine Rückwirkungen -
jeder Raucher weiß, wovon ich rede.
Analoges gilt natürlich für die räumliche Entfernung zwischen Ursache, Auswirkung und Rückwirkung: Wenn man, wie die EU-Länder, große Teile seines toxischen Elektroschrotts nach Afrika verschifft, vergiftet man dort die Umwelt und nicht zu Hause, also eigentlich gar nicht.
Bei zunehmender zeitlicher und räumlicher Entfernung wird es anspruchsvoller, eine kausale Beziehung zwischen dem Tun in der Vergangenheit und seinen Rückwirkungen in der Gegenwart tatsächlich zu beweisen – und so lange die nicht zweifelsfrei bewiesen ist, kann man bei entsprechender kurzfristiger Interessenlage noch lange so tun, als sei da nichts.
Die Tabakindustrie hat das über Jahrzehnte hinweg sehr profitabel durchgezogen. Und schließlich, am dramatischsten: wenn sehr viel Zeit zwischen dem Bewirken und dem mit den Rückwirkungen Konfrontiert werden vergangen ist, ist es vielleicht zu spät, überhaupt noch etwas zu ändern.
Das ist ziemlich genau das Muster des Prozesses, den wir in Bezug auf die globale Erwärmung durchmachen: erst sehr lange völlig leugnen, dann eine Temperaturerhöhung anerkennen, aber bestreiten, dass unser Ausstoß an Treibhausgasen wirklich ursächlich sein könnte, dann ist es zu spät, und alles, was man überhaupt ändern könnte, würde wiederum lange Zeit brauchen, bevor die Auswirkung spürbar wären.
In einer anderen Blogreihe habe ich die Weltklimakonferenz im Dezember dieses Jahres in Paris als schicksalhaften Prüfstein der kollektiven Intelligenz unserer Spezies beschrieben.
Schon weg sein, wenn das Feedback eintrifft
Wie lange sind wir für die Folgen unseres Tuns verantwortlich?
Die Halbwertszeit von Uran wird in Jahrhunderttausenden gemessen. So lange also mindestens, wenn wir das Zeug in unseren Atomkraftwerken verwenden, aber natürlich ist dann niemand mehr da, der zur Verantwortung gezogen werden kann.
Wenn man schon weg ist, bevor die Rückwirkungen des eigenen Tuns einen zum Lernen auffordern könnten, muss man sich um das Lernen nicht scheren. Um dieses Agens kollektiver Dummheit ausfindig zu machen, müssen wir gar nicht so spektakuläre Beispiele bemühen wie den Umgang mit der Atomkraft.
Wir brauchen nur in unsere ganz normalen globalisierten Unternehmenskulturen zu schauen: Die durchschnittliche Verweildauer von Führungskräften, besonders im mittleren und oberen Management, ist immer häufiger kürzer als eine kleine Handvoll Jahre. Besonders Leute, die Karriere machen wollen, deren Lernfähigkeit also für die gesamte Organisation Auswirkungen hat, wechseln oft schon nach 2 Jahren in eine andere Position. Sie werden also mit den Rückwirkungen auf die von ihnen getroffenen und zu verantwortenden Entscheidungen gar nicht mehr konfrontiert.
Das ist eine offene Einladung für eine Art Fahrerfluchtmodell persönlichen Erfolges (weg sein und reich, bevor die Polizei kommt, siehe ‚Wolf Of Wall Street‘) und eine effektive Verhinderung kollektiven Lernens.
Intelligenz und Ethik
Die heiße Herdplatte ist eher ein Ausnahmefall für das Lernen. Die meisten Folgen unserer Entscheidungen und Taten wirken erst mit mehr oder minder großer Verzögerung auf uns zurück. Manches braucht Jahrzehnte oder noch länger, viele Generationen.
Und eine Kausalitätsbeziehung zwischen dem, was man vor langer Zeit getan hat und dem, womit man jetzt konfrontiert wird, ist keine triviale Herausforderung und als Versuch schon ein Akt von Intelligenz. Aber das dauert! Und vielleicht ist es schon zu spät.
Die Frage entsteht also: Gibt es Shortcuts? Abkürzungen, die es uns individuell und kollektiv ersparen könnten, diese langen Wege der Erkenntnis und des Lernens immer wieder zu durchmessen, und die es uns ersparen, immer wieder dieselben Fehler zu machen und nicht zu lernen, bevor es zu spät ist?
Der Gedanke, der mir beim Nachdenken über diese Frage kam, für mich selbst überraschend: Ja. In gewissem Sinne sind dies unsere Werte, unsere Gebote und Moralgesetze.
Werte lassen sich betrachten als zusammenfassende Folgerungen aus den Rückwirkungen unseres eigenen Verhaltens. Das Inzesttabu zum Beispiel gilt in den allermeisten menschlichen Gemeinschaften. Es ist eine moralische Vorschrift, die wahrscheinlich hervorging aus der wiederholten und schmerzhaften Beobachtung, was dabei herauskommt, wenn nahe Verwandte Sex miteinander haben.
Das Tötungsverbot, sicherlich ein hohes Rechtsgut in den meisten Gesellschaften, ist die Konsequenz aus der Erkenntnis, immer wieder und über lange Zeiträume gemacht, dass furchtbare Täter-Opfer-Dynamiken und Vendetta-Schlachten die Folge sind, wenn man das nicht verbietet.
Die Freiheit der Meinungsäußerung ist ein hoher Wert in unserer Kultur, weil wir die geschichtliche Erfahrung gemacht haben, dass wir gemeinsam klüger sein können, wenn alle ihre Stimme erheben dürfen. Und so weiter.
Werte sind also dafür da, individuelle wie kollektive Klugheit zu befördern, besonders, wenn es um das Vermeiden von langfristig negativen Folgen geht.
Andererseits natürlich sind sie ja eine Abkürzung, die uns ersparen soll, selber zu lernen. Sie kommen daher als deduktive Setzungen, und manchmal, wenn es um induktives Lernen, um das Erkennen von Mustern und Gesetzmäßigkeiten geht, reicht das nicht.
Und schließlich, Werte verändern sich auch, als Ergebnis individueller und kollektiver Lernprozesse. ...
Ich bin mit meinem Denken über diese Zusammenhänge bei weitem nicht am Ende, und ich lade alle, die diesen Fragen auch nachgehen, ein, ihre Gedanken mit mir zu teilen – damit wir gemeinsam klüger werden.
In Teil 8 unserer Reihe "Kollektive Intelligenz" geht es um die Frage: Was verhindert kollektives Lernen?
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Hubertus (Donnerstag, 29 Dezember 2016 11:19)
Toller Artikel. Übrigens: Zwischen dem, was man vor langer Zeit gesagt oder aus bestimmten Erwartungen getan hat, kann man mit sogenannten Prognosefragen die tatsächlichen Entwicklungen überprüfen. Kostet nichts ausser etwas (gesundem) Denkaufwand.
Zum gleich Ausprobieren:
https://www.prediki.com/my-prediki/create-a-question/
Peggy Kammer (Montag, 16 Januar 2017 08:55)
Hallo Hubertus,
vielen Dank!
Den Denkaufwand für die Prognosefragen nehmen wir gern "in Kauf" :-)
Viele Grüße vom Wandelforum