Zeige deine Wunde

von Peggy Kammer

Zeige deine Wunde

"Es gibt Menschen, die machen aus einfachen, ja schäbigen Dingen aufregende Zauberstücke [...]

 

Die Welt ist groß, unendlich viel größer als eure Vorstellungen von Kunst, Arbeit, Lebenssinn, Ordnung und Schönheit." 

 

 

Das Zitat ist von Joseph Beuys. Es könnte auch eines über ihn sein. 

Rüdiger Sünner ist ihm gefolgt für den Film und das Buch "Zeige deine Wunde"


Herausgekommen ist eine Mischung aus Biographie, Kunstbetrachtung und persönlicher Reflexion zu Werk und Leben des Künstlers - fast schon eine Liebeserklärung, die ganz zart und aufmerksam den Spuren von Beuys folgt, sie entfaltet und das Herz der Lesenden berührt.  

Meine Begegnung mit dem Buch

Ich war kein Riesen-Fan von Beuys, fand ihn aber schon immer interessant, weil er mutige und skurrile Kunst machte. Als ich vor ein paar Wochen die Regale im Buchladen durchstöberte, sprang mir der Titel "Zeige deine Wunde" ins Auge und berührte mich sofort. 

Und als ich den Untertitel las "Kunst und Spiritualität" wusste ich, dass ich es kaufen werde. 

 

Joseph Beuys trat für eine radikale Offenheit ein. Für ihn war es wichtig, dass der Mensch seine Fehler und Mängel nicht versteckt, im Gegenteil. Wenn der Mensch zugebe, dass er ein unvollkommenes Wesen sei, werde dieses Wesen für die ganze Welt erst produktiv. Indem man die eigene Unvollkommenheit akzeptiert und offenlegt, entsteht überhaupt erst ein kreativer Prozess. "Diese Wunde, dieses Fragmentarische muss man anschauen und dann weitergehen, sich ergänzen lassen vom anderen. Das gemeinsame Vorgehen bringt die Menschheit überhaupt erst in Gang." (J. Beuys)

 

Gedanklich bin ich im Moment sehr mit dem Projekt "Deine Spur" beschäftigt.

Was mich treibt, ist eine Überzeugung: Jeder einzelne Mensch leidet darunter, dass in der Gemeinschaft etwas fehlt. Dieser Mangel äußert sich individuell: wir sind tief traurig darüber und kritisieren uns gleichzeitig selbst, dass wir nicht ein besserer Mensch sind.

Und dieser Mangel äußert sich kollektiv: Weil wir uns alle gemeinsam nicht erlauben, das Unvollkommene, Unfertige, Zerbrechliche in den öffentlichen Raum zu bringen. 

 

 C.G. Jung hat das in "Das Werden der Persönlichkeit" so formuliert: 

Zeige deine Wunde
Carl Gustav Jung

 

 

"Es ist in der Regel etwas Ungutes, ja Böses, was die Stimme des Inneren an uns heranbringt, weil man für gewöhnlich seiner Tugenden nicht so unbewusst ist wie seiner Untugenden.

Die innere Stimme bringt das zum Bewusstsein, woran das Ganze, das heißt das Volk, zu dem man gehört, oder die Menschheit, deren Teil wir sind, leidet.

Aber sie stellt dieses Böse in individueller Form dar, so dass man zunächst meinen könnte, dass all dieses Böse nur individuelle Charaktereigenschaft wäre."

Die Verwobenheit der Entdeckungen im Individuum und in der Gemeinschaft, in der Welt, ist doch echt ein Ding, oder?!  

 

Das, was berührt, was unsere Herzen erreicht und aus ihnen spricht ... genau das versagen wir uns. Und genau das steckt in dem Buch "Zeige deine Wunde" - ein Aufruf von Beuys, das Innere nach Außen zu kehren. Und genau das ist das Anliegen in dem wunderbaren globalen Kunst-Projekt von JR: Inside Out

 

Joseph Beuys wird oft zitiert mit seiner Aussage "Alles ist Skulptur" - alles kann (und muss) gestaltet werden: in der Wirtschaft, im sozialen Leben, in der Politik, der Naturwissenschaft usw. Überall sind wir alle die Schöpfer unserer Welt. Wenn wir doch wenigstens ab und an daran denken würden ... 

Joseph Beuys im O-Ton

1978 veröffentlichte Beuys mit anderen Leuten den "Aufruf zur Alternative".

Das ist fast 40 Jahre her - und aktueller denn je. 

 

Hier ein Auszug:

 

"Es droht die restlose Zerstörung der Naturgrundlage, auf der wir stehen. Wir sind auf dem besten Wege, diese Basis zu vernichten, indem wir ein Wirtschaftssystem praktizieren, das auf hemmungsloser Ausplünderung dieser Naturgrundlage beruht. [...] Abermillionen - weltweit gesehen - sind arbeitslos, können ihre Fähigkeiten nicht für die Gemeinschaft einsetzen. Da werden, um die heilige Kuh - die 'Marktgesetze' - nicht schlachten zu müssen, Riesenmengen von wertvollsten Nahrungsgütern, die sich aus subventionierter Überproduktion ansammeln, ohne mit der Wimper zu zucken, vernichtet, während in anderen Weltgegenden gleichzeitig Tausende täglich an Hunger sterben. [...] Die meisten Menschen fühlen sich den Verhältnissen, die sie umgeben, hilflos ausgeliefert. Das führt zur Vernichtung auch ihrer Innerlichkeit. Sie können (...) in dem undurchschaubaren Knäuel staatlicher und ökonomischer Macht, in den Ablenkungs- und Zerstreuungsmanövern einer billigen Vergnügungsindustrie keinen Lebenssinn mehr erkennen (...) Weltflucht hat Hochkonjunktur. Das Gegenstück dieses Identitätsverlustes der Persönlichkeit ist die Losung "Nach mir die Sintflut", das rücksichtslose Ausleben des Lustprinzips, der glatten Anpassung, um aus der ganzen Sinnlosigkeit wenigstens für sich, solange das Leben noch dauert, herauszuholen, was herauszuholen ist, ohne Rücksicht, auf wessen Rechnung dabei Wechsel ausgestellt werden."


Zeige deine Wunde
Joseph Beuys "Kreuz mit Sonne"

 

 

"Das Einzige, was sich lohnt aufzurichten, ist die menschliche Seele. Ich meine jetzt 'Seele' im umfassenden Sinn. Ich meine nicht nur das Gefühlsmäßige, sondern auch die Erkenntniskräfte, die Fähigkeit des Denkens, der Intuition, der Inspiration, das Ichbewusstsein, die Willenskraft. Das sind ja alles Dinge, die sehr stark geschädigt sind in unserer Zeit. Die müssen gerettet werden. Dann ist alles andere sowieso gerettet." 

 

Joseph Beuys


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