von Peggy Kammer
Wenn eine Veränderung ansteht in unserem Leben, kommen wir manchmal an die Grenze dessen, was uns im Kern ausmacht: unsere Identität. Dann geht es um transformatives Lernen - wer bin ich jetzt und wer will und soll ich sein?
Heute kucken wir, was im Schmelztiegel der Transformation passiert.
Im letzten Teil haben wir uns den Beginn eines Veränderungsprozesses am Beispiel von Martin angeschaut: die Daten und die Schleifen von Benennung und individueller Bedeutung.
Und das kann manchmal lange dauern, bis wir uns durch die Vielfalt an "Namen für unser Problem" und den daraus erwachsenden "Konsequenzen für uns persönlich" gewühlt haben. Der Prozess kommt immer wieder ins Stocken, wir verlaufen uns, verlieren uns in der inneren Vielfalt von Worten, Impulsen und flüchtigen Ideen.
Aufmerksam sein und verlangsamen. All die lauten und leisen Meinungen wahrnehmen. Das hilft uns, die Tragweite der Herausforderung wirklich zu erfassen.
Nur "kleinere" Veränderungen. Oder?
Oft geht es bei Veränderungen nicht um das ganz große Ding. Dann reicht es, eine oder einige kleinere Korrekturen vorzunehmen. Ganz vereinfacht formuliert geht es darum, Anteile
der Persönlichkeit bewusst zu integrieren, ihre Stimmen, ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen und ihnen einen Platz im eigenen Leben einzuräumen.
Wenn wir Martin, der ausgebrannt ist, aus Teil 5 noch einmal bemühen, könnte das heißen:
- Martin entdeckt seine musikalische Leidenschaft aus Jugendtagen wieder und findet so einen Ausgleich zu seinem anstrengenden Job. oder
- Martin kommt zu der Einschätzung, dass er zu viele Aufgabenbereiche wuppt, führt ein Gespräch mit seiner Chefin und alles wird gut. oder
- Martin wird bewusst, dass er sich nach einer Partnerin sehnt, geht öfter aus ... oder oder
Manchmal kommen wir leichter durch eine Veränderung.
Zumindest erst einmal ...
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Was aber, wenn Martin sich gar nicht erlaubt, Schwächen zu haben und überfordert zu sein?
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Was, wenn er sehr (und vielleicht ausschließlich) mit seiner beruflichen Leistungsfähigkeit identifiziert ist?
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Was, wenn er sich nicht traut, ein Gespräch mit seiner Chefin zu führen?
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Was aber ist, wenn er seine Musik als 'alberne Zeitverschwendung' bewertet?
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Was, wenn er sich für uninteressant und unattraktiv hält? ...
Helfen dann die "Maßnahmen"? Eher nicht.
Die reinen Verhaltensoptionen sind leicht - wenn "man" sich dafür in der Lage fühlt und sie sich erlaubt.
Was aber, wenn nicht? Dann geht es an das eigene Selbstkonzept.
Voilá: Transformation, bitte.
Das große Ding
"Transformatorische Krisen sind eben deshalb Krisen, weil sie in Frage stellen, worauf wir ganz besonders stolz sind, womit wir ganz besonders identifiziert sind, woran unser Herz ganz besonders hängt."
(aus: Die Heiligen Kühe und die Wölfe des Wandels)
Um unser Verständnis dessen, wer wir sind (und sein dürfen), in Frage zu stellen und neu zu definieren, brauchen wir eine gebündelte Kraft.
Die Vielfalt unserer inneren Anteile bringt uns auf die Spur der Veränderung, hilft uns aber an dem Punkt nicht weiter. Die Veränderung unseres Selbstkonzepts ist ein "Hot Spot", der "High Noon", "Auge um Auge", ein Kampf um Leben und Tod.
Ja, so dramatisch ist es.
Mythologisch betrachtet, geht es hier um den Kampf zwischen Held und Drache.
Joseph Campbell hat den Mythos der Heldenreise in allen Kulturen und ihren Geschichten aufgespürt... Mehr dazu im nächsten Teil.
Der Held ist der Teil in uns, der ganz da sein will, der sich entfalten möchte, der strahlen will, der (sich und die Welt) verändern möchte. Der Held ist die Versammlung all unserer inneren Anteile - das Ich, wie es sein will und sein soll und sein muss, damit wir ein gelungenes Leben führen: unser Leben. Das Leben, mit dem wir einen Unterschied machen - für andere Menschen und die Welt.
Sein Gegenspieler ist der Kritiker.
Der innere Kritiker (oder: die innere Kritikerin) gehört zu uns, ist Teil unseres inneren Ensembles. Gleichzeitig ist er aber auch eine individualisierte Instanz des kulturellen Kritikers, eine Filiale der Sippe, zu der wir gehören, in der wir aufgewachsen sind.
Der Kritiker ist statisch und lernt nicht. Er ist nicht kreativ und innovativ. Er dreht immer und immer wieder die gleichen Schleifen. Pawlows Hund ist das Paradebeispiel für ihn.
Das können wir nutzen.
Um die Auseinandersetzung mit dem Kritiker durchzustehen, zu überleben und wie Phönix aus der Asche kraftvoll hervorzugehen, brauchen wir eine Instanz in uns, die alles bezeugt und den Sinn für diesen Kampf stiftet: unser Zeugenbewusstsein.
Das Zeugenbewusstsein ist der Beobachter von allem. Es ist auch der Beobachter des Beobachters - also der Beobachter des Kritikers, eine Zeuge zweiter Ordnung.
Das Zeugenbewusstsein betrachtet ohne Bewertung. Das ist zum Beispiel der Zustand, der mit und in der Meditation erreicht werden soll. Das Zeugenbewusstsein ist die Quelle, die uns mit etwas verbindet, das größer ist als wir selbst, größer und tiefer als unser Ego, unser begrenztes Bild von uns und der Welt.
Diese Verbindung brauchen wir, um den Kampf aufzunehmen.
Was glaubst du eigentlich?
Wenn wir anfangen, unser Bild von uns selbst in Frage zu stellen, erhebt sich sofort eine schneidende Stimme in uns: Was glaubst du eigentlich, wer du bist?
Der Kritiker hat eine Lieblingsbeschäftigung:
Kritik üben - wenig konstruktiv und immer vernichtend.
Er ist, vor einer transformatorischen Krise, der Herr in unserem inneren Raum. Er entscheidet, welche Anteile unser Selbst Raum haben und welche nicht. Er entscheidet, was wahr und wichtig ist.
Und er hätte es gern, wenn alles immer so bliebe, wie es ist. Seine Motivation ist: Angst.
Angst vor Verletzung, Angst vor Kontrollverlust, Angst vor Veränderung.
Angst vor dem prallen Leben.
Da kann er einem fast ein bisschen leid tun, oder?
Verständnis, Zuwendung, Überzeugungsarbeit - all das bringt nichts. Das einzige Mittel, um ihm seinen Platz im inneren Ensemble zuzuweisen, ist, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen:
Kritisiere den Kritiker! Mit aller Härte und Kraft und Leidenschaft.
Der Kritiker versucht, uns klein und ohnmächtig zu halten - so wie als Kind. Er hat Angst vor Verantwortung für das eigene Leben und Handeln. Er meint, uns beschützen zu müssen.
Er meint, dass wir das nicht können. Er glaubt, dass wir das nicht dürfen: weil unser Handeln dann Konsequenzen hat, weil wir für das, was wir tun, einstehen - und dafür kritisiert werden könnten. Und verletzt.
Das mythologische Traumland - Vorschau
In einer Krise beantworten wir die Frage nach dem, was wir für die Wahrheit halten, für erstrebenswert und lohnend, neu. Um für diesen Schatz eintreten zu können und ihn in die Welt zu tragen, müssen wir neue Qualitäten in uns entdecken, sie entfalten und integrieren.
Und das ist keine kognitive Leistung, die wir da vollbringen müssen. Die Reise durch das Traumland erkunden wir im nächsten Teil dieser Reihe ... der Zauber des Lebens.
"Bisweilen verwandeln Krisen Wissen in Glauben und Glauben in Wissen."
(Dr. Hanspeter Rings)
Diesmal gibt es nur eine Frage für dich und deinen Prozess:
Wovor hast du am meisten Angst?
Sich dieser Frage zu stellen, erfordert Mut.
Die Antwort darauf ganz zu entfalten und ihr ins Gesicht zu sehen, erfordert Kraft und Vertrauen.
Ergänzend dazu kannst du die 7 Fragen aus Teil 4 nutzen.
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