von Rainer Molzahn
Wie kann ich die Welt verbessern ...
Oh je, ein großes Thema und eine tiefe Frage.
Vielleicht nähere ich mich ihr am besten, indem ich mich zunächst selber frage, warum unsere liebe Welt überhaupt so verbesserungsbedürftig ist. ...
Täter-Opfer-Dauerschleifen
Je länger ich diese Frage auf mich wirken lasse, desto prägnanter wird mir, dass eigentlich das Einzige, was ich an der Welt dringend zu verbessern finde, die Art und Weise ist, wie wir
Menschen mit ihr und uns gegenseitig in ihr umgehen. Der Rest ist OK.
Um es genauer auszudrücken: Was ich so schmerzhaft, so erbarmungswürdig und peinlich finde, ist, wie sehr unser Miteinander immer noch, auf geradezu vorsintflutliche Weise, bestimmt ist durch das
Täter/Opfer-Muster, und dass es in Dynamiken abläuft, die diesem Muster folgen. Ich tue dir an, was ich dir antue, weil du mir antust, was du mir antust. Und zurück. Und zurück bis ans
Ende der Tage. Ist das nicht zum Heulen?
Beispiele für solche Dynamiken finden wir natürlich zuhauf, von jeher, überall und täglich.
Gerade in diesen Wochen eskaliert das Täter/Opfer-Muster wieder im Nahen Osten, zwischen Juden und Palästinensern: Palästinenser werden als ‚Terroristen‘ von israelischen ‚Sicherheits‘-Kräften erschossen, oder von religiösen Eiferern. Juden werden Opfer von Messerattacken verzweifelter Palästinenser, und zurück, und zurück.
Wie blank die Nerven beidseits liegen, belegen Ereignisse wie das, was gerade, während ich dies schreibe, durch die Presse geht:
Ein jüdischer Mitarbeiter eines Supermarktes wurde von einem Juden, der ihn für einen Araber hielt, beim Sortieren von Paletten rücklings mit 4 Messerstichen verletzt, bevor er sich zur Wehr setzen konnte. Es ist bereits öffentlich die Rede von einer neuen Intifada, die natürlich wieder von den militärisch himmelweit überlegenen Israelis mit Bombenhageln beantwortet werden wird. Und zurück, und zurück.
Beeindruckende Beispiele
Was ermöglicht es uns also, aus dieser Auge-um-Auge-Verdammnis auszubrechen, aus diesem Weltenrad des Leidens? Ich stelle diese Frage weder leichtfertig noch besserwisserisch, für mich ist diese Herausforderung genauso ehrfurchtgebietend wie für jeden anderen Menschen auf der Erde.
Auf der Suche nach einer Antwort komme ich an drei gelungenen Beispielen aus der jüngeren Geschichte nicht vorbei:
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Die von Mahatma Gandhi inspirierte und geformte gewaltlose ‚Satyagraha‘ im indischen Befreiungskampf gegen die englische
Kolonialmacht, Ende der Vierziger.
Der von Martin Luther King Jr. Inspirierte und geformte gewaltfreie ‚zivile
Ungehorsam‘ im Bürger- und Menschenrechtskampf in den USA der Sechzigerjahre.
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Die von Nelson Mandela eingesetzten und von Desmond Tutu geleiteten
‚Wahrheits- und Versöhnungskommissionen‘ im Südarfrika des Übergangs von der
Burenherrschaft zur Demokratie in den Neunzigern.
In all diesen und manchen anderen Fällen gelang es, für große kollektive Transformationsprozesse (überwiegend) friedliche Übergänge hinzubekommen, zum Teil gegen alle Wahrscheinlichkeit. In allen
drei Fällen wären auch Krieg, Vergeltung und jahrzehntelanges Wie-Du-Mir-So-Ich-Dir möglich gewesen. Ich war in den Achtzigern völlig überzeugt, dass in Südafrika der nächste große Bürgerkrieg
bevorstünde.
In all diesen Fällen war es die gelebte Ältestenschaft herausragender Personen, die das Beste in Millionen von Menschen hervorbrachte, die zum Teil jahrhundertelange Opfererfahrungen hinter sich hatten: sich standhaft zu weigern, vom Opfer zum Täter zu werden. Sich nicht mehr knechten zu lassen, aber auch nicht zurückzuschlagen. Und dadurch auch das Bessere im Täter hervorzubringen. Wow.
In der jüngsten Zeit haben mich unter anderem zwei Ereignisse tief beeindruckt, nicht auf so gigantischer welthistorischer Ebene, sondern ganz individuell. Beide gingen durch die Weltpresse:
- Im Juni 2015 verzieh während einer öffentlichen gerichtlichen Anhörung die Tochter eines der Opfer von Dylann Roof, der methodistischen Kirche in Charleston/Süd-Carolina 9 Menschen während eines Gottesdienstes niedergestreckt hatte.
- Im Iran sollte im April 2014 ein junger Mann öffentlich hingerichtet werden, der einen anderen im Streit niedergestochen und getötet hatte.
Im Scharia-Recht ist es das Recht der Familie des Opfers, die Hinrichtung zu vollziehen (also ihrerseits zum Täter zu werden). In letzter Minute weigerte sich
die Mutter des Getöteten, das zu tun: sie verabreichte dem Hinrichtungskandidaten eine Ohrfeige und verzieh ihm. Der Vater löste dann die Schlinge vom Hals des Verurteilten. Anschließend lagen
sich die Eltern des Opfers mit denen des Täters in den Armen …
Wie können wir aussteigen?
Was ist in allen diesen Fällen das Gemeinsame?
Was braucht es also, will man wirklich aus der Täter/Opfer-Verstrickung aussteigen?
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Leider: Das Opfer muss anfangen. Der Täter kommt im Allgemeinen nicht auf die Idee.
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Es hilft ganz offensichtlich, wenn man der Geschichte des anderen zuhört. Dann kann, selbst unter den
leidvollsten Umständen, so etwas wie Empathie entstehen.
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Es kann entscheidend sein, ob es Menschen mit Ältestenqualitäten gibt, die die Täter-und die Opferseite
‚halten‘ können und die einen Raum schaffen, in dem sich beide friedlich begegnen. Einen Raum, in dem es möglich ist, menschliche Verbundenheit spürbar werden zu lassen – im
Täter- und Opfer-Sein und jenseits davon.
Es fällt anscheinend leichter, all das zu tun, wenn man eine Basis im Glauben hat. Ich selbst bin kein Christ. Ich bin aber ein aufrechter Verehrer von Martin Luther King, der einmal, auf den christlichen Imperativ ‚Liebe deine Feinde‘ angesprochen, sinngemäß sagte: „Das kann ich leider auch nicht. Wie kann ich Leute lieben, die meine Leute jahrhundertelang geknechtet, misshandelt und getötet haben? Was ich aber kann: ich kann mir klarmachen, dass Gott nicht nur mich, sondern auch diese meine Feinde liebt. Und das muss ich anerkennen.“ Wenn es Gott nicht gäbe, dann müsste man ihn erfinden …
Wie auch immer wir uns verhalten, ob wir das Täter/Opfer-Drama weiter aufführen oder ein neues Stück spielen: Wir tun es nie nur für uns alleine, was auch immer wir tun.
Alles wirkt.
Wie kann ich die Welt verbessern? - 3 Fragen, 3 Antworten
Die unheilvolle Dynamik Täter-Opfer-Täter-Opfer- ... spielt sich ständig im Großen und Kleinen ab. Wir sind verstrickt, ohne was zu merken. Wir reagieren, ohne was zu verstehen.
Was jede und jeder von uns tun kann, ist: Verlangsamen.
Und dadurch was merken. Und dadurch in jeder potenziell dramatischen Situation einen Unterschied machen.
3 Fragen:
- Welche Täter-Opfer-Verstrickungen kennst du in deinem Leben?
- Was sind die Auslöser für dein "Zurückschlagen", wenn du dich als Opfer eines Angriffs fühlst?
- Wann wirst du zum Täter und was bewirkst du damit bei deinem Gegenüber?
3 Antworten:
- Verlangsamen. Erkunde für dich allein, was dich stört, was dich ohnmächtig macht, ... was in dir passiert, wenn du dich klein und machtlos fühlst.
- Geschichten teilen. Geh auf den anderen zu, sprecht miteinander, teilt eure Geschichten davon, was in der Situation mit euch beiden passiert ist.
- Lernen. Reflektiere für dich allein, was das, was du erfahren hast, für dich bedeutet und was es für dich zu lernen gibt.
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dietmarwieck@t-online.de (Donnerstag, 19 November 2015 18:16)
Hochinteressantes Thema für mich. Ich befasse mich mit GFK (gewaltfreie Kommunikation) und wertschätzender Kommunikation und suche nach weiteren Möglichkeiten und Wegen, mich mit diesem Thema (+ Lösungen) zu beschäftigen.
Bin gespannt auf Resonanz und Kontakte.
Dietmar Wieck
Franziska Bögli (Donnerstag, 20 Mai 2021 11:54)
Lieber Rainer, danke für deine Gedanken. Vor einer Stunde hat mein Partner mich geschlagen - hart auf den Mund. Das erste Mal. Ich bin jetzt seither gelegen.. habe etwas Schwindel. Ich will nicht in ein Opfer-Täter-Verhalten geraten. Ich werde versuchen dass wir austauschen was vorher geschah. Ich weiss noch nicht recht wie ich das tun soll... meine Stimme könnte anklagend tönen, oder weinerlich..so fühle ich mich. Was wenn er nicht reden will? Er hatte sich sofort danach kurz entschuldigt, ist aber seither im Büro verschwunden. Ich möchte ein ehrliches Versprechen dass er das nie mehr tut. Was sonst? Wird es danach wieder gut sein? Ich weiss es nicht. Aber es wäre eine Chance. Was muss ich daraus lernen?
Liebe Grüsse
Rainer (Donnerstag, 20 Mai 2021 19:40)
Liebe Franziska,
dein Kommentar berührt mich. Wäre es gut, mal zu sprechen? Du erreichst mich unter rainer@wandelforum.de