von Rainer Molzahn und Julian Gebhard
Bei der Flut an Nachrichten fällt es uns oft schwer, das Geschehen des Monats herauszufiltern.
In diesem Monat soll uns ein Ereignis beschäftigen, das neben den aktuellen humanitären Katastrophen fast unter den Tisch der Aufmerksamkeit gefallen wäre:
Ein Ereignis, das an der Oberfläche nur ein einfacher Verwaltungsakt war, dessen Umsetzung allerdings gravierende globale Folgen haben kann ...
Öl unter der Arktis
Mitte des Monats erteilte eine amerikanische Regierungsbehörde der holländisch-britischen Shell Oil Company die Genehmigung, ihre exploratorischen Ölbohrungen in der arktischen Tschuktschen-See
wieder aufzunehmen.
Bedingung für die Genehmigung war, dass ein Eisbrecher mit Sicherheitsausrüstung für den Fall eines ‚Blowouts‘ (wir erinnern uns an ‚Deepwater Horizon‘ 2010) vor Ort zur Verfügung steht. Der Eisbrecher traf am 11.8. am Ort der Probebohrungen ein, nachdem er einige Wochen in Portland, Oregon, durch Reparaturarbeiten und Umweltaktivisten aufgehalten worden war.
Shell betonte natürlich, dass damit die höchsten Sicherheitsstandards und die neueste Technologie zur Verfügung stünden, um sicherzustellen, dass die Bohrungen in „sicherer und ökologisch verantwortlicher Weise“ stattfinden würden.
Eine Lizenz zum Töten?
Unter dem Meeresboden der Arktis, in 2400 Meter Tiefe und noch tiefer, lagern womöglich 412 Milliarden Barrel Öl und Gas, das sind etwa 13% Öl bzw. 30% Gas der noch weltweit vermuteten Vorkommen. Das ist eine große Verlockung und, so eine Shell-Sprecherin, „potenziell eine nationale Basis an Energieressourcen“.
Allerdings, so ein Kommentar des früheren BP-Chefs John Browne, immerhin ein gebranntes Kind, ist das Shell-Programm „riskant“. Nicht nur ist die Tschuktschen-See ein gefährliches und unberechenbares Gebiet. Nicht nur sind die Folgen für das fragile Ökosystem Arktis unberechenbar, und damit für die Menschen, die seit Jahrtausenden in ihm leben.
Nicht nur ist die gesamte Geschichte der Probebohrungen in der Arktis eine lange Reihe von Selbstüberschätzungen, Fehlschlägen und Unglücken. Erst die Folgen der globalen Erwärmung machen es ja möglich, jetzt erneut mit größerem Optimismus in der Arktis ans Werk zu gehen, nachdem viele vorangegangene Versuche immer wieder abgebrochen wurden. Nicht nur wird es, selbst wenn alles ‚gut‘ geht, Jahrzehnte dauern, bevor sich die immensen Investitionen amortisiert haben werden.
Die ökologischen Risiken sind immens: Die Bohrungen könnten eine „Kohlenstoffbombe“ zünden, die bis zu 150 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre sprüht. Wenn tatsächlich, trotz aller verbesserten Sicherheitstechnik, ein Leck auftritt, ist nicht davon auszugehen, dass die Mikro-Organismen, die 2010 im Golf von Mexiko halfen, die Ölmoleküle zu zerlegen, wirksam sein können. Dazu ist das Wasser im Nordmeer viel zu kalt. Experten halten für den Fall, dass große Mengen ausgelaufenen Öls tatsächlich unter der arktischen Eisdecke gefangen wären, die Aussichten für eine Säuberung des riesigen Seegebiets für ‚äußerst unwahrscheinlich‘.
Ein neuer Kalter Krieg?
Kein Wunder also, dass die amerikanische Regierung massiv in die Kritik geriet, nicht nur von den indigenen Bewohnern Alaskas. Ausgerechnet in diesen Tagen ist Obama ja zu Besuch in Alaska, um für seine strengere Umweltpolitik zu werben. Greenpeace, Friends Of The Earth und andere warfen ihm verständlicherweise Heuchelei vor. Selbst Hillary Clinton, Obamas mögliche Nachfolgerin, äußerte sich skeptisch bis ablehnend.
Es bleibt aber die Frage: Was ist das globale politische Schachbrett, auf dem jetzt die amerikanische Eröffnung gespielt wurde? Wer sind die anderen Spieler auf diesem Schachbrett, was ist die sich abzeichnende Dynamik, und was ist wohl der Hintergrundprozess, der diese Dynamik erzeugt?
Als erstes muss man sich klar machen, dass es natürlich nicht nur die Amerikaner sind, die ein Interesse an den Bodenschätzen der Arktis haben.
Neben ihnen erheben weitere Nationen Ansprüche, deren Ausmaß und Gewicht sich aus den Grenzlinien ihrer Staatsgebiete ergeben:
Seit Jahren wird in diesem riesigen Gebiet allseits aufgerüstet: Neue und mächtigere Eisbrecher, Überwachungsflugzeuge und Fliegerstaffeln, U-Boote und alle mögliche Technik. Aber auch rechtliche Streitigkeiten vor internationalen Gerichtsbarkeiten um die Größe von Festlandssockeln und die Gültigkeit von Verträgen. 2007 pflanzte ein U-Boot-Kapitän die Flagge seines russischen Heimatlandes auf den Meeresboden, um die Arktis für sein Heimatland zu reklamieren.
Mittlerweile wird vielerorts davon gesprochen, dass hier ein neuer Kalter Krieg begonnen hat – durchaus mit dem Potenzial, zu einer heißen Auseinandersetzung zu eskalieren.
Als zweites fällt einem auf, dass diese Entwicklungen einen merkwürdig alten Touch haben. Große Länder, die sich ein Wettrennen um Bodenschätze liefern, die mit Flaggen ihre neu eroberten Gebiete markieren und dann ausbeuten - alles auf Kosten der Ureinwohner:
Das Kolonialzeitalter hat angerufen und möchte seine Schlagzeilen zurück haben.
Viele der Situationen ähneln erinnern tatsächlich an Zeiten, die wir alle für vergangen gehalten hatten.
Einiges hat sich jedoch geändert.
Zum einen haben sich die Menschen geändert, welche zu Schaden kommen: Die Arbeit auf heutigen Eisbrechern und Bohrinseln ist hochspezialisiert und wird von wenigen Leuten ausgeführt. Dennoch schadet sie Milliarden von Menschen. Die Sklaven, die auf Zuckerplantagen oder in Minen arbeiteten, waren im Gegenteil unmittelbar die am schwersten Betroffenen der wirtschaftlichen Verhältnisse.
Zum anderen der Schauplatz: Nach den südamerikanischen Wäldern oder afrikanischen Steppen tritt nun die fast unzugängliche Arktis in das Blickfeld der Weltmächte. Die große Ironie ist hierbei, dass die neuen Bohrungen gar nicht erst möglich wären ohne die bisherige Klimaerwärmung. Normalerweise wäre das Eis in vielen Regionen viel zu dick, um Ölbohrungen zuzulassen. Der Kampf um die letzten großen Erdöl- und Erdgasreserven wird also, im wahrsten Sinne des Wortes, auf dem Rücken aller bisherigen Bemühungen zur Bewahrung von Natur und Umwelt geführt.
Ein kollektiver Panikkauf
Letztlich mutet das ganze irre Rennen wie ein panikgetriebener Versuch an, nochmal richtig fett einkaufen zu gehen, bevor die Läden geschlossen werden. Während gleichzeitig klar wird, dass wir uns mit dieser Einkaufsorgie auf das Schwerste an unseren Lebensgrundlagen versündigen.
Wir alle sind als Verbraucher und als Souveräne unserer demokratischen Staatssysteme Mittäter und Komplizen dieser monströsen kollektiven Dummheit: weil wir partout unseren Lebensstil nicht ändern wollen, tun wir alles dafür, ihn in nicht mehr ferner Zukunft ganz bestimmt ändern zu müssen.
Der britische ‚Guardian‘ hat vor einigen Wochen die Initiative ‚Keep It In The Ground‘ gestartet, die wir von Herzen unterstützen: Lasst die fossilen Brennstoffe im Boden!
Kommentar schreiben