von Peggy Kammer
In Teil 3 unserer Reihe 'Transformatives Lernen' ging es um unsere innere Vielfalt - und die Frage, wer eigentlich die Entscheidungshoheit über das hat, was wir 'Identität' nennen. Wer ist das?
Wer entscheidet, wer und wie wir sind? Und was wäre, wenn wir eine neue Entscheidung treffen würden ...?
Vielleicht hast du dir ja nach dem letzten Artikel dein inneres Team genauer angeschaut und eine illustre Runde vorgefunden. Und vielleicht hast du einige Anteile deiner selbst neu oder wieder entdeckt, die du entweder wenig schmeichelhaft findest oder die nicht genügend Raum in deinem Leben haben.
Und vielleicht ist auch die Frage in dir aufgetaucht: Wozu das alles?
Transformatives Lernen - wozu überhaupt?
In meinem Artikel "Was kann ich Sinnvolles tun?" klopfte die Sinn-Frage nach dem 'wozu überhaupt' schon einmal an. Und freilich könnte man sagen: Ich komme auch so durch. Ich bin, wer ich bin. Wozu darüber nachdenken? Warum sich die Mühe machen?
"Werde, was du bist." ist das Leitmotiv der Psychosynthese von Roberto Assagioli.
Wir alle kommen als einzigartige Wesen auf die Welt. Und wir haben die Aufgabe, diesen Kern im Laufe unseres Lebens (wieder) zu entdecken und zu verwirklichen - trotz und wegen der kulturellen und gesellschaftlichen Formung, die wir erfahren (haben) und die uns prägt.
"Erkenne dich selbst" stand am Tempel von Delphi. Die Aufforderung sollte die Besucher anregen, individuelle Fragen und Probleme durch die Auseinandersetzung mit der eigenen inneren Persönlichkeit zu lösen. Die Erkenntnis der 'Innenwelt' diente als Zugang zur Problemlösung in der 'Außenwelt'. Die Erkundung des eigenen Selbst ist also keine frivole und reine selbst-bezogene Beschäftigung, sondern befähigt uns dazu, in die und in der Welt zu wirken, etwas zu verändern und zu verbessern, was nur wir so machen können - eben weil ich so bin, wie ich bin und du so bist, wie du bist.
"Arbeite aus deinem eigenen Werk heraus - nicht aus dem eines anderen." (Richard Sierra). Produktiv sein, etwas Eigenes - das! Eigene - schaffen, etwas bewirken, einen Unterschied machen, ... ist das nicht das Leben? Mit Leidenschaft der eigenen Aufgabe nachgehen?
Transformatives Lernen eröffnet uns als Individuen die Freiheit, das zu tun, was wir tun wollen-sollen und lebendig zu sein - verwurzelt in der Welt und verbunden mit anderen
Menschen.
Wem das alles nicht attraktiv erscheint, dem kann ich wohl leider auch nicht helfen.
Wer fährt deinen Bus?
Wenn transformatives Lernen dazu dient, dass wir als Individuen vollständiger und freier werden, bleibt die Frage nach der inneren Führung. Oder, etwas plakativer: Wer fährt deinen Bus?
Das Bild des inneren Teams ist natürlich nur ein mentales Modell, um mit unserem Intellekt die innere Vielfalt zu erkunden.
Wer hält den Laden zusammen und setzt die Prämissen für die Entscheidungen, wer wir sind und wie wir handeln? Führung, auch die innere, hat etwas mit Macht und Minderheiten zu tun.
Ich zitiere aus dem Dicken Buch "Die heiligen Kühe und die Wölfe des Wandels" von Rainer und Elke:
"Unsere Identität ist als 'herrschende Minderheit' des inneren Ensembles verantwortlich dafür, auf einen sensorischen Input hin einen Output zu generieren [...]. Unsere Identität filtert
unsere Wahrnehmungen und sitzt im inneren Prozess der Konsensrunde vor, die sich über die Bedeutung des sensorisch Wahrgenommen zu einigen hat, bevor eine solche Antwort erfolgen
kann.
Der innere Prozess der Bedeutungsgebung vollzieht sich in einer Dynamik zwischen herrschender Minderheit (Identität), dem inneren Mainstream (den identitätsnahen und -tragenden Teilen) und den inneren Minderheiten. Diese inneren Minderheiten sind jene Gefühle, Impulse, Signale und Stimmungen, die in einer gegebenen Situation marginalisiert, unterdrückt und vom 'Stimmrecht' ausgeschlossen werden, um eine [...] ,in Bezug auf das kulturelle Umfeld, den Erwartungs-Erwartungen genügende Antwort zu geben.
Marginalisierung innerer Minderheiten ist also ein situativ immer wieder notwendiger Vorgang. Wir drücken uns niemals vollständig aus. [...] Im Prozess der Identitätsentwicklung ist es daher wichtig, mit unseren inneren Minderheiten in Kontakt und Beziehung zu treten und ihnen zuzuhören, damit sich die Bedeutung ihrer Minderheitserfahrung für uns neu entfalten kann, denn das Mittel, mit dem wir sie marginalisieren und zu Minderheiten machen, ist das der Kritik."
Der innere Kritiker (oder: die innere Kritikerin) ist eine merkwürdige Figur. Natürlich gehört er zu uns, ist Teil unseres inneren Ensembles.
Gleichzeitig ist er aber eben auch eine individualisierte Instanz des kulturellen Kritikers, eine Filiale der Sippe, zu der wir gehören, in der wir aufgewachsen sind.
Der Kritiker benutzt immer "Du"-Ansprachen: Das kannst du nicht. Was glaubst du eigentlich, wer du bist. Das darfst du nicht. Du musst dieses und jenes. ... usw.
Ich will jetzt im Moment gar kein Kritiker-Bashing betreiben, obwohl er echt ein übler Kerl ist und uns das Leben oft zur Hölle macht.
Und die Auseinandersetzung mit dem Kritiker ist ein heißer Kampf, bei dem wir voll und ganz gefordert sind - und die Unterstützung unseres Zeugenbewusstseins brauchen. Dazu aber in Teil 6 mehr.
Der Punkt ist, ihm seine Machtposition streitig zu machen und selbst die innere Führung zu übernehmen: als Ich, als Einheit unserer inneren Anteile, als Entität, als "neues" Individuum - mit neuen Regeln, was wir für richtig und wichtig erachten.
Vor der Transformation und nach der Transformation
Wenn wir ein stark vereinfachtes Vorher-Nachher-Bild zeichnen wollten, könnte dies so aussehen:
Vor einer transformatorischen Krise wird das innere Team direkt oder indirekt vom inneren Kritiker beherrscht. Das zeigt sich darin, dass ein Individuum entweder mit dem Kritiker identifiziert ist oder unter ihm leidet.
Die Zwischenphase ist die Auflehnung gegen ihn - wenn man also genau das Gegenteil von dem macht, was der Kritiker als richtig ansieht. Aber auch hier ist das Individuum noch von ihm beherrscht, da alle Entscheidungen in Opposition zu den Regeln des Kritikers stehen.
Nach der Transformation ist der Kritiker als Teammitglied integriert - er darf sprechen, beherrscht aber nicht mehr das innere Team. Stattdessen hat "Ich" die Führung übernommen.
Ganz kurz zusammengefasst geht es im Prozess des transformativen Lernens darum:
- die eigene innere Vielfalt zu entdecken und marginalisierte oder tabuisierte Anteile ans Licht zu holen,
- die eigene Wahrheit zu erkunden und zu entfalten,
- den Kritiker vom Thron zu schubsen,
- seine Energie und Kraft aufzunehmen und für die eigene, neue Wahrheit einzusetzen und
- ihn als Teammitglied zu integrieren.
Alles ganz easy und nachvollziehbar, oder? Dass der Prozess individuell häufig länger dauert, mehrere Schleifen dreht, uns verunsichert, umwirft, traurig und wütend macht, manchmal auch mut- und kraftlos, wir uns manchmal verlaufen und zweifeln ... das gehört dazu. Leider. Dafür ist der Gewinn umso schöner. Und irgendwie hilft es auch, den grundsätzlichen Prozess zu kennen oder zu erahnen. Bevor wir aber den Prozess genauer anschauen - im nächsten Teil - hast du wieder die Möglichkeit, mit dir selbst zu arbeiten:
7 Fragen für dich
- Was erhoffst du dir durch die Arbeit mit dir selbst?
- Was ist dein kühnster Traum davon, was du in deinem Leben sein und bewirken kannst?
- Welche 5 Gegenargumente tauchen auf?
- Woher kommen sie und woher kennst du diese Einwände?
- Was passiert mit dir, während du diese Kritik hörst?
- Wo hörst und spürst du die Stimme, die sagt: Aber trotzdem! ...?
- Was sagt sie?
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