von Rainer Molzahn
In Teil 4 habe ich die Struktur des Informationsverarbeitungsprozesses dargelegt, den eine Gruppe durchlaufen muss, um von der Wahrnehmung einer Herausforderung aus dem Außen zu möglichst intelligenten Handlungsentscheidungen fortzuschreiten, und wie sich diese Prozess-Struktur im Diskurs der Gruppen- (oder Organisations-, oder System-) Mitglieder abbildet – mit intelligentem, weniger intelligentem oder flagrant dusseligem Ausgang. Und darum soll es heute gehen.
Kollektive Dummheit
Da man das Thema ‚kollektiv schlau sein‘ nicht durchdringen oder gar befördern kann, ohne seiner Kehrseite gewahr zu sein, soll es diesmal darum gehen, wie es eine Gruppe anstellen kann, gemeinsam dumm zu sein.
Die Schwellen im kollektiven Meinungsbildungsprozess, an denen das am wirkungsvollsten geht, habe ich in Teil 4 schon benannt:
(1) Wahrnehmung: nachhaltig nichts merken.
(2) Information: irreführende Benennungen verwenden.
(3) Bedeutung: Bedeutungslosigkeit unterstellen.
(4) Identität: an überkommenen Selbstkonzepten festhalten.
(5) Handeln: nichts machen.
Was jetzt niemanden mehr überraschen wird: Kollektive Dummheit ist so wenig vom individuellen IQ abhängig wie kollektive Klugheit. Man kann also auch in einer Gruppe von Physikprofessoren richtig dummes Zeug verzapfen.
Wenn es aber nicht am IQ liegt, woran liegt es dann?
Im Folgenden will ich einige prägnante Faktoren aufzählen. Sie sind uns allen wohlvertraut, denn wir begegnen ihnen als Mitglieder von Gruppen und Organisationen täglich.
Nichts merken
Mal ganz von vorne...
Wie kann man es hinkriegen, Realitäten möglichst lange zu leugnen?
Indem man so identifiziert und beschäftigt damit ist, seine Ziele und Zielvorgaben zu erreichen, dass alles andere nicht nur eine Ablenkung, sondern nachgerade eine Gefährdung für die Zielerreichung darstellt. Das gilt für das Management, das den Shareholdern gegenüber verantwortlich ist für die Erreichung der strategischen Ziele, das gilt aber natürlich im Gefolge dessen auch für alle Führungskräfte und die anderen Mitarbeiter einer Organisation. Wenn dann noch wesentliche Teile des persönlichen Einkommens an eine Zielerreichung gekoppelt sind, erzeugt das nicht nur einen Tunnelblick, man wird ja sogar potenziell zum aktiven Komplizen der organisierten kollektiven Dummheit.
In diesem Sinne sind zeitgenössische Zielvereinbarungssysteme hoch wirksam dafür, eine große Menge intelligenter und gut ausgebildeter Menschen in ihrem Zusammenwirken dumm zu machen. Je mehr man
mit den anderen Kollegen konkurriert, desto egoistischer muss man werden, desto weniger teilt man Wissen und Wahrnehmungen miteinander, desto dümmer wird das Ganze.
Wortmagie
Wie wir Dinge benennen, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wie wir sie behandeln und was aus ihnen wird. Ich bin immer wieder tief beeindruckt von der Macht der Wörter, die sich speist aus unserer Neigung, die Wörter mit dem zu verwechseln, was sie benennen. Schon die Alten wussten ja: Am Anfang ist das Wort. Mit ihm erschaffen wir unsere Welt.
Ganz einfaches Beispiel aus dem Leben eines international agierenden (und geeigneten) großen Unternehmens: Nach mehreren strategischen Neuausrichtungen und Reorganisationen, zum Teil einander überlappend, war die Stimmung in der Belegschaft ganz schlecht, Zynismus und Desillusionierung weit verbreitet schlecht (wahrscheinlich ließen nur die Zielvereinbarungssysteme die Menschen noch zur Arbeit kommen).
Dem Management blieb das auf Dauer nicht vollkommen verborgen, denn dafür gibt es ja gewisse Kenngrößen (Krankenstand, Abwanderungen usw.) Es wurde ein externer Dienstleister an Bord geholt, dessen Diagnose (Achtung, Wortmagie!) dann nach aufwändigen Fragebogen-Aktionen war: es gäbe ein Engagement-Problem (englisch ausgesprochen, natürlich).
Engagement-Problem, aha, dachte sich das Management, da muss man was machen: wo wenig Engagement ist, muss mehr Engagement her. Also wurde ein ganzer Katalog von Maßnahmen ersonnen, flott benannt und auch durchgeführt, in denen die armen Menschen mit ihren Chefs dann Kanutouren machen mussten und Kooperationsspiele und so weiter, und die Chefs bekamen in ihre Ziele geschrieben, dass sie sich zu Maßnahmen verpflichteten, die das Mitarbeiter-Engagement zu erhöhen hätten,.. und tausend Sachen mehr, und es wurden neue Stabsstellen eingerichtet, deren Aufgabe die Orchestrierung und Kommunikation der vielfältigen Anstrengungen war – alle Maßnahmen bezogen ihre Berechtigung aus der Benennung, die ihnen vorausging. Überflüssig zu sagen, kostete das Ganze auch noch ein Heidengeld.
Oh je. Nicht nur war der ganze Strauß von Maßnahmen für die Katz, es wurden natürlich auch die Benennungen selbst für alle Zeiten verbrannt (wenn Sie mal dort zu tun haben, verwenden Sie besser nicht Begriffe wie ‚Engagement‘ oder ‚Motivation‘ …), und die Tendenz zu höhnischem Gelächter am Kaffeeautomaten unter den dort arbeitenden Menschen hat sich zu neuen Qualitäten von Expressivität gesteigert.
Was einen an so etwas so rasend macht ist: Richtig geredet hat mit den Leuten niemand. Obwohl das schneller, billiger und überhaupt intelligenter gewesen wäre. Und man hätte einzeln wie gemeinsam was gelernt! Und das ist ja, wenn überhaupt etwas Einzelnes, das Markenzeichen von Intelligenz: dass man nicht aufhört zu lernen. Aber alle waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Ziele zu erreichen.
Ich plädiere hiermit für ein jährlich abzuhaltendes Festival der kollektiven Dummheit, in dessen Rahmen die Organisation mit einem attraktiven Preis gewürdigt wird, die sich im abgelaufenen Geschäftsjahr am schönsten geweigert hat zu lernen.
Wir sind gerade dabei, die Kriterienliste für die Endauswahl der Kandidaten zu erstellen.
Weil die noch ein bisschen länger ist, als ich heute ausführen konnte, heißt es auch in Teil 6 dieser Blogreihe wieder: kollektive Dummheit, das vertreibt die Zeit und ist ästhetisch befriedigend!
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