von Julian Gebhard
Das Wandelforum hat sich viele Ziele gesetzt.
Eines der Wichtigsten ist mit Sicherheit die Befreiung aus kulturellen Trancen.
Aber was genau meinen wir damit?
Ich kann gut verstehen wenn manch einer sich bei diesem Satz zu aller erst an die Werbeplakate von Sekten und Glaubensgemeinschaften erinnert fühlt.
Beinahe jeden Tag steht vor meiner Universität zum Beispiel eine kleine Gruppe von Leuten mit Flyern und Pappschildern. Zu lesen ist in großen Buchstaben: „Erwachet!“. In aller Regel hetzen die Studenten an den Missionaren vorbei und beachten sie nicht weiter. Ich frage mich dann manchmal, ob es auch nicht ein sehr optimistisches Unternehmen ist, Leute auf ihrem morgendlichen Weg zur Uni zu bekehren. "Glauben to go" sozusagen. Und doch kommt es aber immer mal wieder vor, dass ich sehe, wie sich Leute tatsächlich mit den Werbe-Erlösern unterhalten und einen der Flyer mitnehmen.
Ist es also das, was das Wandelforum mit der Befreiung aus kulturellen Trancen meint? Eine quasi-religiöse Botschaft mit der Versprechung von Erlösung? Wenn ja, warum stehen wir dann nicht auch vor der Uni, am besten mit noch größeren Pappschildern und bunten Bannern?
Selbstverständlichkeiten sind nicht selbstverständlich (auch wenn sie so heißen)
Weil wir etwas sehr anderes damit meinen. Es geht uns nicht darum, irgendjemanden zu einem Glauben zu bekehren. Vielmehr sind wir daran interessiert, euch und uns auf die Überzeugungen aufmerksam zu machen, die bei uns allen schon so selbstverständlich geworden sind, dass kein Mensch mehr merkt, dass wir sie überhaupt haben.
Sicherlich ist es spannend sich mit den Dingen zu beschäftigen, über die wir täglich denken, reden und streiten und die offensichtliche eine Rolle in unserem Alltag spielen. Wie viel aufregender ist aber die Suche nach den – wahrscheinlich noch viel fundamentaleren - Dingen, deren Einfluss uns nicht mehr bewusst ist? Annahmen, die uns so natürlich erscheinen, dass wir keinen Gedanken an sie verschwenden.
Bis zu dem Punkt, an dem wir merken, dass sie es nicht sind.
Wenn es aber doch passiert, wenn wir merken, wie selbstverständlich, trancehaftig eben, wir bisher etwas angenommen haben, das so klar und offensichtlich überhaupt nicht ist, hat das interessante Folgen.
Vielleicht wird einem klar, was das wirklich Wichtige ist, worauf man sich tatsächlich beruft, was einen eigentlich ausmacht. Das kann ein unglaublich bestärkendes Erlebnis sein.
Vor einigen Wochen zum Beispiel war ich in der Abteilung für englische Literatur eines Buchladens. Ich blätterte durch einen Ratgeber für englische Reisende in Deutschland als ich auf (sinngemäß) folgenden Satz stieß: „Die Unhöflichkeit der Deutschen ist ein Zeichen, was für eine ernste Angelegenheit Freundschaft ist.“
Wow. So einfach. Die deutsche Grantigkeit quält mich schon seit langem, und tut es immer noch. Aber seit ich diesen Satz gelesen habe, ist mir klar geworden, welchen hohen Status Freundschaft auch für mich hat und ich kann verstehen, warum man mit ihr nicht leichtfertig umgeht. Das heißt zwar noch nicht, dass ich seit Neuem ein Fan der deutschen Unhöflichkeit bin, aber es ist eine Perspektive, die ich so nie hatte.
Was aber, aber wenn einem die einst unbewussten Annahmen nicht gefallen? Was, wenn man merkt, dass all das Quatsch ist, was man für so selbsterklärend gehalten hat?
Unbedingt lesen
Mit einer Erkenntnis dieser Art steigt der amerikanische Anthropologe und Anarchist David Graeber in sein Buch ein, „Debt: The first 5000 years“.
Wir alle haben eine Vorstellung, wie Geld in die Welt gekommen ist: als Zahlungsmittel um komplizierten Tauschhandel einfach und direkt zu machen. Das Problem: Es gibt keinen einzigen Beweis, dass dies stimmt.
Stattdessen existierte die Idee von Geld schon lange vor der Prägung der ersten Münzen. Im Alltag der Leute existiert jedoch eine komplexe Verstrickungen aus Schulden und Versprechen, kein Tauschhandel. Der kommt nur zwischen absoluten Fremden, möglichen Feinden, zustande. Leuten also, von denen man nicht erwartet, sie noch einmal zu sehen.
Graeber nimmt eine gesamt-geschichtliche Perspektive ein. In einem Überblick von den frühsten Kulturen in Mesopotamien bis zu dem Kapitalismus von heute zeigt er, dass unsere heutigen Vorstellungen von Wirtschaft, Staat, Geld und Schuld weder ohne Alternative, noch selbstverständlich sind.
Was sind Schulden?
Das Thema Schuld ist dabei aktueller denn je. Ein Schuldenerlass für Griechenland klingt für viele ausgeschlossen und wie viele Studenten sehen es als bittere Tatsache an, dass sie ihr halbes Leben lang mit der Rückzahlung belastet sein werden?
Jedoch sind diese Verhältnisse keine Naturgesetze. Es gab in der Geschichte viele Gemeinschaften von Leuten, die Schulden nicht als etwas sahen, dass im besten Fall nicht existiert und das, wenn es vorkommt, möglichst bald aus der Welt geschafft werden sollte. Im Gegenteil: Schulden können auch als das Fundament einer Gemeinschaft gesehen werden. Als formelle oder informelle Arten zu zeigen, dass alle voneinander abhängig sind, oder, wie ein irisches Sprichwort sagt; „It's in the shelter of each other that we live.“
Wo liegt dann aber der Ursprung des Münzgeldes, wie wir es kennen? Auch hierfür gibt Graeber eine Erklärung an. Lange Zeit wurde Geld hauptsächlich als Recheneinheit zwischen staatlichen Behörden verwendet. In eine alltägliche Zirkulation kamen Münzen erst, um Soldaten zu bezahlen. Von ihnen aus verbreitete sich ihr Nutzen auf die restlichen Gesellschaftsteile.
Soldaten sind sich bewusst, dass ihr Geschäft ein gefährliches ist. Dauerhafte Schuldverhältnisse sind hier keine Möglichkeit – man bedenke wie viele Soldaten wegen ausstehender Zahlungen schon gemeutert haben. Daher die Zahlung in Münzen. Hierfür wird aber eine riesige Zahl an Arbeitern für das Minen und Pressen benötigt. Eine geeignete Aufgabe für die Tausenden von Sklaven - die man mit viel Soldaten und großen Kriegen erhält.
Geldwirtschaft, groß angelegte Kriegsführung und Massensklaverei sind nach Graeber also eng verbunden. Eine gänzlich andere Geschichte als man es gewohnt ist. Aber eine, die sein Buch zu einem der spannendsten und lehrreichsten unserer Zeit macht.
Wandel-Trance
Zurück jedoch zur zuvor gestellten Frage: Was passiert, wenn wir unbewusste Annahmen, die wir hatten, erkennen - und feststellen, dass sie Unfug sind?
Das ist durchaus eine unangenehme Erfahrung. Immerhin... man ist schließlich mit diesen Vorstellungen identifiziert, auch wenn man es vielleicht nicht wusste. Trotzdem kann man nicht mehr zurück, wenn man einmal aus einer dieser Trancen gerissen wurde. Ein Quantensprung auf der Wahrnehmungsebene sozusagen.
Also was dann?
Ich denke, man kommt zu der Erkenntnis, dass sich irgendetwas ändern sollte, vielleicht sogar muss. Ich denke, man kann nach einer so grundlegenden Realisation schließlich nicht einfach so weiter machen, als wäre nichts passiert, oder?
Es ändert sich etwas auf einem Level, das man aber bis dahin noch gar nicht kannte. Und ich denke, es gibt einen guten Namen für diese Veränderung: Wandel.
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