Kollektive Intelligenz, eine Definition - Teil 2

von Rainer Molzahn

Kollektive Intelligenz Definition Teil 2

Kollektive Intelligenz wurde hier definiert als „die Klugheit von Entscheidungen, die wir treffen, nachdem wir uns miteinander beraten haben“.

 

Nachdem ich im ersten Teil dieses Beitrages versucht habe, die systemischen Randbedingungen für kollektive Intelligenz klar zu ziehen, soll es diesmal um die Frage gehen:

 

 

Wie muss eine öffentliche Arena beschaffen sein, in der es möglich ist, einen gegenseitigen Beeinflussungsprozess zu haben, der zu klugen Entscheidungen führt?


Die öffentliche Arena

Wenn ich hier den Begriff ‚öffentliche Arena‘ benutze, dann meine ich damit den (realen oder virtuellen) Raum, an dem eine Gruppe von Leuten zusammenkommt, um über die Dinge zu sprechen, die für alle gemeinsam von Bedeutung sind. Die ‚Beschaffenheit‘ dieses Raumes ist also nichts anderes als die Kultur, die in ihm herrscht, bzw. frauscht: wie man miteinander umgeht, wie man sich aufeinander bezieht, was dort gesagt wird, und was nicht. Unsere Frage, etwas anders ausgedrückt, heißt also: Welche Kultur eines öffentlichen Raumes fördert gemeinschaftliche Klugheit?

Die Wirkfaktoren

Als man vor einigen Jahren am MIT/Boston und anderswo begann, sich der Erkundung gemeinschaftlicher Klugheit empirisch zu widmen, war die erste Hypothese, dass kollektive Intelligenz eine Funktion der versammelten individuellen Intelligenzen wäre: je schlauer die einzelnen, desto schlauer die Gruppe. Dies erwies sich als Irrtum. Stattdessen schälten sich drei Faktoren heraus, die zum kollektiven IQ beitragen. Sie sind einfach, unmittelbar einleuchtend und potenziell brisant:

Männer und Frauen

Es hilft, wenn das Geschlechterverhältnis einigermaßen ausgeglichen ist. Eigentlich nicht überraschend, oder? Die Brisanz liegt hier darin, dass die Kulturen der meisten unserer öffentlichen Arenen seit Jahrtausenden männlich dominiert sind. Es geht aber nicht nur um das Zahlenverhältnis, obwohl das eine verlässliche Rolle spielt. Es geht darum, dass die Gruppe Leute braucht, die Körpersprache lesen können und die Fähigkeit zur Empathie haben. Bei Frauen sind diese Talente in der Regel weiter verbreitet als bei Männern.

Gesprächsanteile

Es hilft weiter, wenn die Anteile, die die Mitglieder an der gemeinsamen Meinungsbildung haben, relativ gleich verteilt ist – wenn die Diskussion also nicht durch wenige dominiert wird, wenn möglichst alle gehört werden und sich äußern. Die Brisanz liegt hier in mindestens drei Dingen. Erstens: das kostet Zeit. Die meisten Kulturen unserer öffentlichen Arenen sind so ergebnisgetrieben und so unter Zeitdruck, dass man sich diese Zeit erst nimmt, wenn die Lage ganz schlimm wird. Zweitens: der bei uns gängige Diskussionsstil von aggressiv getöntem Entweder/Oder entmutigt viele, sich überhaupt an der Diskussion beteiligen. Drittens: Rang sticht letztlich immer. Was Cheffe sagt, hat überragendes Gewicht.

Unterschiede

Es hilft, wenn die Gruppenmitglieder unterschiedlich sind in Bezug auf Herkunft, Hintergrund, Alter, Expertise, Perspektive und so weiter. Umgekehrt könnte man sagen: je ähnlicher, je konformistischer, desto dümmer. Diversität ist also nicht nur eine globalisierungsgetriebene HR-Offensive, sie ist konstitutiv für gemeinschaftliche Klugheit. Die entspringt wahrscheinlich eher einem alchemistischen Prozess der Interaktion vieler unterschiedlicher Teile, und nicht so sehr einer rein deduktiv-analytischen Für/Wider-Rezeptur. Potenziell brisant ist hier: kann es zu divers werden? Wo ist der Tipping Point? Den schien es nach den ersten Untersuchungen nämlich zu geben: wenn die Unterschiede zu groß wurden, waren die Gruppenmitglieder bzw. natürlich auch die Leitungen irgendwann damit überfordert, den Regenschirm über alle aufzuspannen. Es zeigt sich dann aber, dass es wohl keine ‚Obergrenze‘ für Diversität gibt, wenn die Leitungsperson dafür qualifiziert war. Wow!

Und das Schönste: Die drei Faktoren sind nicht nur dann wirksam, wenn eine Gruppe physisch zusammenkommt. In unserer medienabhängigen Zeit ist die öffentliche Arena ja immer häufiger virtuell, ohne direkten sinnlichen Zugang der Mitglieder zueinander. Besonders die so wichtige Wahrnehmung nonverbaler Signale ist je per Email nicht möglich. Es zeigte sich aber, dass die Fähigkeit zur Empathie nicht viele sinnliche Informationen braucht, um sich einzuschalten.

Was sich aber auch gezeigt hat in diesen kurzen Abschnitten: die Wirkfaktoren kollektiver Intelligenz stoßen sich hart im Raum mit einigen unserer kulturellen Selbstverständlichkeiten – fast Heilige Kühe (Insiderwitz)!

 

 

In Teil 3 wird es darum gehen, wie der gegenseitige Beeinflussungsprozess in der öffentlichen Arena einer kollektiv smarten Gruppe tatsächlich aussehen kann.


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