von Peggy Kammer
Empört euch!
"Widerstand kommt aus Empörung.
Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen."
Engagiert euch!
"Wenn man sich über etwas empört, wird man aktiv, stark und engagiert.
Wir selbst, allein und absolut, sind für die Welt verantwortlich."
Das schreibt Stéphane Hessel. Recht hat er.
Empört euch. Engagiert euch. Aber wie?
Da kann man nix machen
Man kann ein bisschen schimpfen, klar.
Aber es ändert sich ja nix.
Da kann man nix machen.
Man steckt nicht drin.
Nee, tut man nicht. Was kann der kleine Mann schon tun.
Nee, echt. Da kann man nix machen. Nur sterben. Also los!
Nicht mal das kann man machen.
Man ist es ja schon.
Peg van Lou 2014
Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit.
Wenn eh alles egal ist, alles gleich gültig, warum dann empören und wozu engagieren?
"Die Gründe sich zu empören sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen – die Welt ist zu komplex geworden. Wer befiehlt, wer entscheidet?
Die Welt ist groß, wir spüren die Interdependenzen, leben in Kreuz- und Querverbindungen wie noch nie." (Hessel in: Empört euch)
Ist das ein Grund, ich meine: ein hinreichender Grund, die Hände in den Schoss zu legen und zu versuchen, irgendwie durchzukommmen, für sich zu sorgen, ein bisschen Spaß zu haben? Arbeiten, Familie, Häuschen abbezahlen, zweimal im Jahr in den Urlaub, manchmal ausgehen, ein bisschen Yoga hier und Meditation da und das Sparguthaben im Blick haben. Und am Ende? Am Ende des Lebens? Man geht, ohne dagewesen zu sein.
Peinlich. Oder?
Gleichzeitig brauche ich nur einen Tag, an dem ich die Nachrichten aus der Welt höre und mich in meinem Umfeld umschaue, und ich finde 273 Umstände, die nicht hinnehmbar sind, die mir nicht gleichgültig sind. Aber wo anfangen? Und was bewegt mich und dich und uns zu Empörung - und dann zum Handeln, zum Engagement?
Empört euch. Engagiert euch.
Empörung ist die Entrüstung, der gerechte Unwille über eine unwürdige, vom sittlichen Gefühl verurteilte Handlung. Empörung ist der persönliche oder gemeinschaftliche Ausdruck der empfunden Entwürdigung. Diese geschieht durch Missachtung und Verletzung einer sozialen Norm. Empörung ist ein moralisches Gefühl.
Was muss passieren, dass ein Mensch sagt: Oh Gott. Keine Ahnung. Ich gebe auf. Ich ignoriere alles Missstände - ich nehme sie nicht mehr wahr....? Was passiert vor der Aufgabe? Ohnmacht. Ohne Macht. Ohne Annahme, dass ich als kleines Licht auch nur ein Fitzelchen verändern kann.
Wir können freilich alles ignorieren und so tun, als ob das alles mit uns nichts zu tun hat. Aber wir können unsere Wahrnehmung nicht abschalten. Wir können die Reize reduzieren oder uns auf etwas anderes konzentrieren. Klar. Aber wir merken doch etwas. Wir merken, dass etwas nicht stimmt. Wir leiden unter der Welt, so wie sie ist. Und kapitulieren.
Ja. Ja. Und ja.
Aber trotzdem! Und trotzdem. Trotzen wir den Widrigkeiten! Veränderung kommt nicht vom Himmel, auch wenn wir uns das manchmal gerne wünschen. Veränderung braucht Kraft, braucht Wut. Veränderung braucht Empörung.
Empörung heißt: Partei ergreifen. Empörung ist sozial. Empörung ist individuell. Empörung braucht Empathie: für andere und für mich.
Empörung weckt den Menschen in uns. Wir ergreifen Partei, wenn etwas Wichtiges, etwas Zartes und Schützenswertes verletzt wird. Das ist Mitgefühl. Für mich, für andere, für unsere Welt. Ich bin überzeugt, dass jeder und jede Einzelne von uns verletzt ist. Manche errichten Mauern, umhüllen sich, um nicht verletzbar zu sein.
Ich trete ein für unsere Verletzlichkeit. Für Berührung. Wer nicht verletzbar ist, ist nicht berührbar - und kann andere nicht berühren.
Lasst uns literweise Tränen vergießen über uns und unsere Welt. Und lasst uns dann loslegen.
"Ich empöre mich, also sind wir."
Das schreibt Albert Camus in "Der Mensch in der Revolte". Empörung ist eben nicht nur individuell. Verletzlichkeit ist nicht nur individuell. Aber auch. Im Wandelforum interessieren uns genau diese Beziehungen von Indiviuum und Gemeinschaft, die Verschränkung, die Bedingtheit, die Beziehung. Und mit den Worten von Martin Luther King: “Whatever affects one directly, affects all indirectly. I can never be what I ought to be until you are what you ought to be. This is the interrelated structure of reality.”
Empört euch. Engagiert euch.
Die Interdependenzen und das Gesetz der Ganzheit.
Steigen wir noch etwas tiefer ein in die Verwobenheit von Individuum und Gemeinschaft. Was ist sichtbar? Was ist verborgen? Licht und Schatten, Yin und Yang. Alles ist. Und das Ganze braucht die Polarität, um sich auszudrücken, um wahrnehmbar zu sein. So viel aus buddhistischer Sicht. Mu.
Sobald wir in der Welt sind, also wirklich sind, und etwas bewirken wollen, unterscheiden wir. Wir scheiden das Ganze in seine Pole. Etwas soll sein - und steht im Gegensatz zu etwas Anderem. Damit das Ganze ganz ist und wird und sein kann, wird das Gegenteil von dem, was wir bewirken wollen, automatisch mit auf den Plan gerufen. Das ist doch teuflisch, oder? Nicht umsonst sprach Mephisto: "Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft." Ist das nicht ironisch?
Und auf dem zweiten Tanzparkett spielt sich folgendes ab: Wir haben ein Bild davon, wie wir sind. Da passen Eigenschaften und Überzeugungen hinein, andere nicht. Wenn wir schonungslos mit uns sind und uns mit den dunklen Seiten in uns konfrontieren - mit den Seiten, die wir nicht nur nicht mögen, sondern für die wir uns schämen - dann kommen wir so langsam dahin, wo es spannend wird. Scham ist eine soziale Empfindung. Das Schamgefühl entsteht erst daraus, dass wir uns mit den Augen von anderen betrachten und bewerten, ob das gut oder schlecht ist. Und wir verschmelzen mit dieser Bewertung.
Wir schämen uns für das Schlechte, das Unperfekte, für das Böse und das Gemeine in uns. Vor uns, vor anderen, vor Gott und dem Leben. Und jetzt wird es noch interessanter. C.G. Jung schrieb in seiner Abhandlung "Vom Werden der Persönlichkeit" folgende geniale Gedanken: "Es ist in der Regel etwas Ungutes, ja Böses, was die Stimme des Inneren an uns heranbringt, weil man für gewöhnlich seiner Tugenden nicht so unbewusst ist wie seiner Untugenden. Die innere Stimme bringt das zum Bewusstsein, woran das Ganze, das heißt das Volk, zu dem man gehört, oder die Menschheit, deren Teil wir sind, leidet. Aber sie stellt dieses Böse in individueller Form dar, so dass man zunächst meinen könnte, dass all dieses Böse nur individuelle Charaktereigenschaft wäre."
Gaaaaaanz vereinfacht, könnte das heißen: Der Abgrund in mir als Individuum ist ein Leiden in der Welt - ein kollektiver Abgrund - unter dem ich leide, unter dem wir alle leiden.
Meine These ist: Als Menschen teilen wir unsere höchsten Höhen, die großartigsten Träume, das hellste Licht... und die tiefsten Tiefen, das Dunkelste, Hässlichste, Gemeinste. Nur dazwischen, in dem großen Raum des Mittelmaßes, da teilen wir nichts. Und sind voneinander getrennt.
Empört euch. Engagiert euch.
Empörung könnte also dazu dienen, Licht und Schatten voneinander zu trennen und zu erforschen - individuell und kollektiv. Wenn ich das Schönste in mir entfalte und mich vor dem Hässlichsten nicht fürchte, sondern mich ihm stelle, kann ich unglaubliche Entdeckungen machen, die mich kraftvoll werden lassen. Wofür setze ich mich ein - und wogegen. Daraus erwächst Engagement.
Ja, wenn es so einfach wäre. Und damit meine ich nicht nur die anstrengenden Kämpfe im Inneren.
Wenn eine Waagschale schwerer wird, braucht das Ganze den Ausgleich. Und das ist der Punkt, genau hier, an dem ich schon oft verzweifelte und aufgab. Sobald ich mich für etwas einsetze, wird die Gegenposition auch stärker. In jeder Diskussion kann ich das beobachten: Je leidenschaftlicher einer seine Position vertritt, desto heftiger fällt die Gegenrede aus. Hin und Her. Plus und Minus. Ein Kompromiss wäre wieder im großen Raum des Mittelmaßes. "Alles darf sein" ist eine förderliche Grundhaltung. Aber genau darum geht es doch gerade nicht, wenn ich mich für etwas stark mache. Und trotzdem: Sobald ich wirksam sein will, rufe ich die Polaritäten auf den Plan.
Was für ein großer Unsinn. Aber auch: Was für ein Geschenk.
Wenn wir uns und das Leben einfach so verstehen könnten, für uns alleine, ohne andere Menschen, dann hätte Gott sich nicht die Mühe machen müssen, Adam und Eva ins Paradies zu setzen. Dann hätte er schön gemütlich, aber vermutlich auch gelangweilt herumlungern können. Aber er wollte Action und sich amüsieren. Er braucht uns, um das Leben in seinen Trilliarden von Facetten zu erfahren. Schön für Gott. Aber was ist mit uns? Was bedeutet das für uns und unser Leben, unser Zusammenleben? Und welche Konsequenzen ziehen wir daraus für unser Engagement in der Welt?
Eine Antwort könnte sein: Geh deinen Weg, durch Berge und Täler. Und teile deine Geschichte mit anderen. Lass sie teilhaben an deinen zartesten Träumen und an deinen Niederlagen. Vielleicht: Teile das Beste und das Schlechteste in dir. Und dann hör deinem Gegenüber zu. Und entdecke, was dir bislang verborgen blieb.
Eine zweite Antwort könnte sein: Finde das, was dich am meisten schmerzt, empöre dich und tu was dagegen. Bleibe dabei wach und neugierig, sonst verrennst du dich.
Oder... oder....
Oder?
Und jetzt?
Stéphane Hessel schreibt: "Seht euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt. Suchet, und ihr werdet finden."
Suche in dir und in deinem Mitmenschen und in der Welt. Themen gibt es genug. Und es gibt genau ein Thema, was darauf wartet, dass du dich engagierst.
Das Thema, wofür du, genau du, prädestiniert bist - durch deine Geschichte, deine Träume, deine Verletzungen. Genau eins. Genau deins.
Klar kann man auch so durchkommen durchs Leben. Man hat es nett. Mal mehr, mal weniger. Es gleicht sich aus. Man kommt durch im großen Raum des Mittelmaßes. Ist ja auch viel Platz da. Und man hat Gesellschaft. Es ist gemütlich und meist komfortabel. Klar geht das.
Den eigenen Weg finden und ihn gehen, seinem Herzen folgen und hart am Wind surfen. Das Gehirn in abseitige und paradoxe Winkel führen, so dass es einen Absturz erlebt. Trotzdem das Denken nicht lassen, das Ergründen und Grübeln. Was versuchen und scheitern. Und weitermachen. Sich verlaufen. Einen neuen Weg finden und etwas verloren Geglaubtes wiederfinden. Gemein sein und herzlich. Verletzlich sein und trotzdem in der Welt bleiben. Kämpfen - und liebevoll sein.
Das ist kein leichter Weg. Klar.
Aber ich möchte nicht anders leben, Du?
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